Teil 2

Etwa zwei Wochen später war vor unserem Haus die Hölle los. 

 

Marita und Susan wurden mit einem parteieigenen Hubschrauber zu einer politischen Talkshow eingeladen, nachdem Marita in einem Zeitungsinterview über Susans Buch gesprochen hatte. Sie war eine ausgezeichnete Rednerin geworden, und nach dem Schock, dass auch Plan B - also Oliver - nicht funktionieren würde, hatten die beiden das Thema somit erneut in die Öffentlichkeit gebracht. Sie sprachen zwar bereits von einem Plan C, wollten diese Gelegenheit nun aber auch nicht vorübergehen lassen. Und Susan als Autorin des in Fachkreisen doch recht Aufsehen erregenden Buches "Hürdenläufer - Diese Steine werden einem Homo-Paar auch heute noch in den Weg gelegt" war ebenfalls eingeladen.

 

Der Krach war so ohrenbetäubend, dass sich Susan die Ohren zuhalten musste.

Marita jedoch, die schon öfter mit diesem Ding umhergeflogen war, stieg hoch erhobenen Hauptes in den Hubschrauber ein.

Natürlich schauten Johanna und ich die Sendung im Fernsehen an. Sie war nachmittags aufgezeichnet worden und wurde dann abends ausgestrahlt.

 

Die Moderatorin der Sendung führte das Gespräch souverän, und Susan und Marita konnten nun zum ersten Mal vor einem großen Publikum die Dinge darlegen, die immer noch schief liefen. Die Hürden, die immer noch genommen werden mussten.

Marita wurde mit der Zeit auch immer deutlicher. Ihr Satz:

"Sehen sie uns an. Glauben sie wirklich, wir würden es nicht schaffen, ein Kind großzuziehen?", war mir am längsten im Gedächtnis geblieben, weil Maritas Gesichtsausdruck dazu so genial gewesen war. Entschlossen, wütend, aber doch beherrscht. Die Moderatorin hatte diese Frage natürlich mit einem nein beantwortet.

Das Gespräch kam dann auch noch mal auf das Buch zu sprechen. Die Frage, ob die Erlebnisse, die Susan darin beschrieben hatte, auch wirklich so von ihnen erlebt wurden, kam natürlich sofort wieder auf. Als Susan diese bejahte, war auch die Moderatorin ergriffen. Ihr Appell, dass die Gesetzgebung endlich reagieren müsse, war das Schlusswort, und Hanna und ich waren uns einig, dass wir hofften, dass nun endlich etwas passierte.

Es passierte dann auch was, wenn auch nicht so, wie gedacht. Die Gesetzesmühlen mahlten langsam, und Susan und Marita war das eindeutig zu langsam. Ihr Plan C wurde deshalb in Angriff genommen, und als ich an diesem Tag von der Therapie kam, war ich schon mächtig gespannt, was mich erwarten würde, denn Susan und Marita hatten mich darauf vorbereitet, dass wir Besuch haben würden. Genaueres wollten sie mir nicht sagen, hatten nur noch angefügt, dass sie hofften, ich würde nicht sofort in Ohnmacht fallen und ich solle erst mal zuhören und abwarten.

 

So vorbereitet und auf alles mögliche gefasst betrat ich also unser Wohnzimmer.

Oh Gott!!!

 

Hatte ich wirklich geglaubt, ich wäre auf alles mögliche vorbereitet gewesen? Auf das hier jedenfalls nicht! So viel stand fest!

 

Niemand anders als Christian Kappe hatte es sich auf unserem Sofa gemütlich gemacht!

"Ey, Lucas, Alter! Alles senkrecht?", fragte er mich grinsend, und ich baute mich immer noch fassungslos vor ihm auf. War das etwa Plan C? Eine Samenspende von Chris???

"Logisch", sagte ich cool.

"Bombe", gab Chris zurück und ich runzelte verwirrt die Stirn. Bombe?

Marita schmunzelte.

"Ja, wir finden es auch GUT, dass es Lucas so blendend geht", betonte sie, und mir ging ein Licht auf. Mann, fühlte ich mich immer alt in Chris` Gegenwart! Ein bisschen verändert hatte er sich, seit er bei uns gewohnt hatte. Er war nicht mehr ganz so stark geschminkt, und seine Haare waren nicht mehr so lang. Und weil ich eine gute Erziehung genossen hatte, fragte ich ihn:

"Und wie geht es dir? Auch alles senkrecht?", benutzte ich sein Wort, und Susan neben mir unterdrückte ein Kichern. Sie schienen beide, Susan und Marita, recht aufgekratzt, und ich würde zu gern wissen, wie der Stand hier war. Hatte Chris schon seine Zustimmung gegeben?

"Jo, alles senkrecht hier. Das Wohnheim war anfangs hart, aber die Betreuer haben doch so einiges geschafft. Ich mache jetzt eine Ausbildung, hab meine eigene Bude, und muss mich nur noch ab und zu bei meinem Sozialfuzzi blicken lassen".

"Schön zu hören", sagte ich. Da musste ich bei Gelegenheit mal Gerda fragen, ob Chris hier nur dick auftrug oder tatsächlich dabei war, sein Leben in Ordnung zu bringen. Wir hatten jetzt schon sehr lange nicht mehr über Chris gesprochen, Alberts Probleme waren da immer an oberster Stelle unserer Gesprächsthemen gestanden. Im Moment war Albert in einer Entzugsklinik. Ein wichtiger Schritt war damit getan.

"Und du warst auch fleissig, habe ich gesehen", grinste mich Chris an. "Hast einen kleinen Sohn". Hatte er Raphael wirklich gesehen oder nur auf den Bildern hier? Mich durchfuhr es kurz kalt beim Gedanken, dass Chris urplötzlich in diesem Aufzug vor Raphael gestanden war. Der Kleine müsste sich doch sicher total erschrocken haben!

"Ey, ich war brav! Mach dir nicht in die Hose!", deutete er meinen Gesichtsausdruck richtig.

"Schon gut", sagte ich.

"Außerdem verhandel ich gerade darüber, dass ich vielleicht auch meine Gene weitergebe", sagte er und sah Marita an. Also doch! Du meine Güte, hatten sich die beiden das auch wirklich gut überlegt? Ich meine, ich wusste, dass sie verzweifelt waren, aber so...?

Aber "verhandeln" war zumindest mein Stichwort, dass ich hier im Moment nichts verloren hatte.

"Dann lasse ich euch mal weiterverhandeln", sagte ich deshalb und ging in die Küche.

Dort traf ich auf Hanna, die sich gerade eine Zitronenlimo machte.

"Möchtest du auch ein Glas?", fragte sie mich sofort, und ich bejahte. Sie holte also zwei Gläser aus dem Schrank, ich trug den Krug auf den Tisch, und wir setzten uns.

"Was hälst du von der Sache da drin?", fragte ich sie dann.

"Keine Ahnung. Ich weiß ja nur das von ihm, was ihr mir erzählt habt", sagte sie.

"Hat er Raphael gesehen?", fragte ich weiter. Ich traute Chris einfach nicht über den Weg und hätte es mir sogar vorstellen können, dass er Raphael absichtlich erschreckte oder sonst etwas Blödes anstellte.

"Nur von weitem, als ich ihn ins Bett gebracht habe", antwortete sie. "Ich glaube, er hat Chris gar nicht richtig gesehen". Wenigstens etwas.

"Irgendwie finde ich den Gedanken komisch, dass die beiden ein Kind von Chris haben werden", gab ich ehrlich zu. "Ich meine, der Kerl hat Marita mal angegriffen, als er bei uns gewohnt hat"

"Ja, aber solche Dinge werden ja nicht vererbt, das ist ja eher Erziehungssache oder schlechter Einfluss von außen. Susan hat mir gesagt, dass er viel Mist erlebt hat"

"Na und? Ich habe auch Mist erlebt, bin ich kriminell geworden?", gab ich zurück.

"Nein", sagte Johanna, "und ich weiß, was du meinst. Aber ich glaube, er bringt sein Leben in Ordnung, vielleicht braucht er einfach Chancen". Ich seufzte auf.

"Die soll er ja auch haben. Aber krass ist das schon, Hanna. Wir waren alle froh, als er wieder weg war, der Kerl hat uns an den Rand der Verzweiflung gebracht. Und jetzt soll er plötzlich die Schlüsselfigur für diese wichtige Sache werden?"

"Oder das ist gekränkte Eitelkeit bei dir, weil ausgerechnet Chris deinen Platz einnehmen soll?", fragte sie angriffslustig.

"Was?", lachte ich auf. "Das ist jetzt nicht dein ernst, oder?", fragte ich sie.

"Dann verstehe ich nicht, dass du nicht weiter denkst. Er ist inzwischen älter geworden, hat vielleicht aus seinen Fehlern gelernt. Womöglich bereut er jetzt auch so manches und freut sich, wenn er nicht von allen abgeschrieben wird".

"Hast du eigentlich selbst gemerkt, wieviel mal du >vielleicht< und >womöglich< in den letzten Sätzen gesagt hast? Man weiß nichts über ihn"

"WIR wissen nichts über ihn. Aber ich traue Marita und Susan zu, dass sie sich informiert haben, dass sie mit ihm in Kontakt getreten sind und ihn durchleuchtet haben. Du denkst, dass das jetzt völlig überraschend ist. Für dich und für mich ja, aber weißt du denn auch, wie lange sie schon an der Sache dran sind?"

"Nein", musste ich zugeben. Wieder seufzte ich auf. "Du hast ja recht. Wir sollten einfach mal abwarten, was sie uns erzählen. Ich sollte das jetzt nicht zu schwarz sehen"

"Genau. Gute Einstellung", lächelte sie mich dann an, und schon fiel es mir deutlich leichter, das alles in einem anderen Licht zu sehen. Doch dann fiel mir ein, dass sie dieses Lächeln vielleicht auch einem anderen schenkte. Dass sie vielleicht heute in der Mittagspause einen anderen geküsst hatte...

 

Ich beobachtete sie verstohlen aus dem Augenwinkel. Wirkte sie nicht absolut glücklich? Glücklicher als noch vor Tagen oder Wochen? Natürlich konnte es sein, dass sie sich einfach für Marita und Susan freute, aber auf der anderen Seite konnte das auch genauso gut einen völlig anderen Grund haben. 

 

Ich verabschiedete mich mit der Ausrede, noch etwas in meine Bücher schauen zu wollen, und ging niedergeschlagen in mein Zimmer. Doch vom Lernen war ich weit entfernt, stattdessen legte ich mich auf mein Bett und starrte an die Decke.

Am nächsten Morgen hatten wir Zeit, über den vorigen Abend zu sprechen. Und Susan und Marita bestätigten, dass sie mit Chris schon einige Wochen in Kontakt waren, und er deshalb für sie in Frage kam, weil auch er diesen Dingen aufgeschlossen war. Er wäre sogar hocherfreut, so eine Sache zu machen, das war er wohl schon gewesen, bevor sie ihm gesagt hatten, dass er dafür auch Geld bekommen würde. Gut, dass konnte ich mir vorstellen. Für Chris war ja alles abgefahren, spacig und cool, was nicht der Norm entsprach, und hier wäre er ein Teil so einer Sache.

 

Mit dem gestrigen Abend hatten die beiden Parteien den Vertrag unterschrieben. Susan und Marita mussten nicht mehr auf eine Gesetzesänderung warten, sie hatten nun die Möglichkeit, ein Kind zu bekommen. Und wie auch schon wie bei mir gedacht, würde auch diesmal wieder Susan diejenige sein, die die Spende empfangen würde. Nicht auf natürlichem Wege, wie sie uns noch augenzwinkernd sagten.

Aber dann überschlugen sich die Ereignisse.

 

Überraschenderweise hatte das Interview von Marita und Susan, die darauf neu entflammten Diskussionen und Berichterstattungen doch mehr bewirkt, als wir das für möglich gehalten hätten.

 

Den beiden wurde ein paar Wochen nach dem Interview der Vorschlag gemacht, als "Versuchsmodell" zu fungieren und eines der ersten homosexuellen Paare in Deutschland sein zu dürfen, das ein Kind zur Adoption bekam.

 

Die Aufregung, die danach in unserem Haus herrschte, war unglaublich. Man hatte ein Kind für die beiden, ein Mädchen aus unserer Hauptstadt Berlington, die Mutter drogensüchtig und am goldenen Schuss gestorben, das Kind vernachlässigt und schwierig. Schwer vermittelbar, diese zwei Worte waren wohl vom Amt gefallen.

Und meine beiden Mitbewohnerinnen hatten sich sofort bereit erklärt, das Kind zu adoptieren. Hätten sie jetzt nein gesagt, wäre das auch politisch fatal gewesen. Und die vertragliche Verpflichtung mit Chris wurde verschoben, er war damit zum Glück einverstanden, was sicher auch daran lag, dass er eh nicht viel von so einem "Wisch" hielt, wie er es nannte.

Hanna und ich beobachteten von der Terrasse aus, wie die beiden ihre Tochter Fiona in Empfang nahmen.

Aus den Augen der beiden sprühte das pure Glück. Ihr größter Wunsch hatte sich erfüllt.

"Schön, oder?", fragte ich Hanna, in deren Augen ein paar kleine Tränen glitzerten.

"Ja", sagte sie ergriffen.

"Jetzt kommt noch mehr Leben in die Bude", sagte ich, und Hanna lachte auf.

"Oh ja. Wenn du deine Masterarbeit schreibst, solltest du dir vielleicht einen Keller mit schalldichtem Raum bauen", sagte sie, und wir lachten beide. Es waren jetzt zwar Semesterferien, aber mit Ferien hatte das diesmal wirklich nicht das Geringste zu tun. Ich hatte mein Thema für die Masterarbeit und würde jetzt beginnen müssen, sie auszuarbeiten. 

Aber die nächste Zeit war dann tatsächlich nicht leicht. Man merkte der Kleinen die Vernachlässigung an. Sie weinte viel, viel mehr als das Raphael je getan hatte, brauchte immer jemanden bei sich.

Und obwohl Susan und Marita für sie das Zimmer neben ihrem, was bisher mehr als Abstellkammer fungiert hatte, wirklich absolut liebevoll eingerichtet hatten, konnte Fiona anfangs überhaupt nicht dort schlafen. Jede Nacht holte eine der beiden die Kleine zu ihnen ins Bett, bis sie schließlich das Kinderbett in ihr Schlafzimmer stellten.

Auch das Warten fiel ihr sehr schwer. Während Raphael geduldig in seinem Stühlchen saß und dort auf sein Essen wartete, weinte sie auch hier wie aus Leibeskräften.

 

Wir alle brauchten viel Geduld, so viel stand fest.

Auch im Umgang mit Raphael zeigte sie sich scheu, meistens floh sie vor ihm, wenn er in ihre Nähe zum Spielen kam. Anders mein Sohn, der auf die neue Spielgefährtin neugierig war. Ganz der Papa eben, dachte ich belustigt, kramte dann aber meine gedankliche Liste hervor. War Lucas Schiller neugierig auf Frauen oder war das doch nur eine Sache gewesen, die wegen der Ängste gekommen war? Nun, ich lernte gerne neue Menschen kennen, das bezog sich aber auch auf Männer. Also, neuer Punkt auf der Liste: Ich bin gesellig.

Nach dem die Prüfungen endlich weg waren und ich Semesterferien hatte, war auch endlich wieder ein bisschen mehr Zeit für gemeinsame Ausflüge da. Wegen der Masterarbeit würde ich in Zukunft nicht so viel Zeit für so etwas haben, aber an diesem Sonntag gingen wir alle ins Schwimmbad.

Da Fiona ihren Altersgenossen hinterherhinkte, was ihre Fähigkeiten anbelangte, versuchten wir nun, ihr mit Geduld die Dinge beizubringen, die z. B. Raphael schon längst konnte. Die beiden waren etwa gleich alt, Raphael nur zwei Monate älter. Natürlich war jedes Kind anders, aber bei ihr fehlten oft noch die grundlegendsten Dinge.

Ich plantschte mit Raphael im Wasser, und er gluckste vor Vergnügen.

Und so etwas machte ich natürlich nur, um die Kinder bei Laune zu halten. Klar.

Wir alle hatten viel Spaß an diesem Nachmittag, und auch Fiona war viel ruhiger gewesen als sonst. Wasser genoss sie eh, auch wenn man sie zu Hause badete. Inzwischen waren wir sogar schon so weit, dass wenn sie sonst kaum mit was zu beruhigen war, sie dann für ein paar Minuten in der Babywanne plantschen ließen.

Dieser Sommer war an manchen Tagen dann aber auch recht anstrengend. Marita war oft außer Haus, ihre Karriere forderte das. Außerdem kamen nun immer wieder Interviewtermine, vor allem auch wegen Fiona, die sie aber nie hier zu Hause machte.

 

Fiona gewöhnte sich nur sehr langsam ein, an manchen Tagen hatte ich das Gefühl, dass sie noch genauso verschreckt und scheu war wie zu Beginn.

Vielleicht war deshalb der Moment, als sie mich zum ersten Mal anlachte, etwas ganz Besonderes.

Jedenfalls hatte ich angefangen, an meiner Masterarbeit zu arbeiten. Mein Thema: "Die virtuelle Bibliothek - Die Bibliothek der Zukunft". Ich musste zwischen 20 und 30 Seiten schreiben, die Architektenpläne dazu zeichnen, wie ich mir so eine Bibliothek vorstellte und dabei immer Rücksprache mit meinem Betreuer, Prof. Wollner, halten. Zudem schloss sich ein Seminar an, dann die Master-Prüfung selbst. Dazwischen kam dann auch das ganz normale letzte Semester, mir würde also in den nächsten Wochen sicher nicht langweilig werden.

Weil Fiona zur Zeit wieder eine Phase hatte, in der sie sehr unruhig war, kaum schlief und sehr viel weinte, musste ich zum Lernen immer mal wieder außer Haus gehen. Da wir uns auch mit dem Aufstehen morgens immer noch abwechselten und man mit zwei kleinen Kindern doch mehr Arbeit hatte als mit einem, war ich oft so geschafft, dass ich mich zu Hause kaum konzentrieren konnte. Aber ich war jetzt auf der Zielgeraden, das hier durfte jetzt nicht schief gehen.

Außerdem machte ich mir nun immer öfter Gedanken um meine berufliche Zukunft. Wenn ich davon ausging, dass ich mein Studium schaffte, dann musste ich danach einen Job finden.

 

Nicht auszudenken, wenn ich das nicht schaffte! Two Lake City hatte zwar mehrere Architektenbüros, aber doch recht kleine, wir waren eben auch nur eine Kleinstadt. Die nächste größere Stadt lag eine halbe Stunde Fahrzeit von hier entfernt, was natürlich auch gut gehen würde. Die Landeshauptstadt war fast eine Stunde von hier entfernt, auch damit könnte ich noch leben. Aber warteten die ausgerechnet auf mich? Fest stand, dass ich natürlich einen Job brauchte. Vor 5 Jahren hätte das anders ausgesehen, wäre es nicht sofort nötig gewesen, weil ich da noch bei meiner Mutter gewohnt hatte, aber jetzt hatte ich Familie und ein Haus. Beruhigend war, dass ich durch die drei Mädels Mieteinkünfte hatte und zur Not wieder malen könnte, doch natürlich wollte ich am Liebsten als Architekt arbeiten.

 

Umso wichtiger war es jetzt, einen guten Abschluss zu machen. Und das widerrum setzte voraus, dass ich mich jetzt hier in diese Masterarbeit richtig reinkniete. Und wenn ich auf dem Zahnfleisch daher kam, dann war das jetzt eben mal für ein paar Wochen so.

Auch am Ende des Sommers hatte Fiona im Vergleich zu Gleichaltrigen immer noch Defizite, hatte nun aber immer häufiger Momente, in denen sie einen zufriedenen Eindruck machte. Die Phasen wechselten ab, mal erschreckten sie große Menschenmassen, dann wieder wenn sie niemanden von uns sah. In diesen Momenten war sie schwer zu beruhigen. Kinderpsychologisch konnte man auch noch nichts machen, weil sie dazu noch zu klein war. Natürlich hatten wir alle uns schon gefragt, was die Kleine wohl erlebt haben mochte. Doch vielleicht war es besser, wenn wir das gar nicht so genau wussten, und zumindest die Mangelernährung war nicht mehr bemerkbar. Außerdem gaben sich hier vier Erwachsene die Mühe, dass sie ihre schlimmen Erlebnisse vergessen konnte.

 

Unser großer Garten war durch einen großen Sandkasten bereichert worden, und diese letzten Sommertage nutzten wir noch aus, um mit den Kindern draußen zu spielen. Und ab und zu ließ ich meine Bücher auch im Haus und spielte einfach mit den Kids.

Auch das Schaukel-Lama kam bei den beiden gut an.

Raphael beobachtete das neueste Familienmitglied immer wieder aufmerksam. Wahrscheinlich fand er es cool, dass es jetzt noch mal jemanden in seiner Größe im Haus gab.

Dass Susan und Marita völlig in ihrer Elternrolle aufgingen muss ja sicher nicht extra erwähnt werden. Man hatte sich das ja wirklich schon früher denken können, und man hatte es auch gesehen, als Raphael noch ein Baby war.

"Lucas, ich habe die nächsten zwei Wochen Urlaub und kann Raphael immer mal wieder nehmen, damit du deine Masterarbeit schreiben kannst", informierte mich Johanna, als wir es uns auf unserer Bank gemütlich gemacht hatten.

"Gut zu wissen. Ich glaube, es würde mir auch mal helfen, einfach eine Nacht richtig durchschlafen zu können", sagte ich zu ihr. "Was natürlich nicht heißen soll, dass du dir im Urlaub die Nächte um die Ohren schlagen musst. Aber mal wieder richtig schlafen wäre echt gut". Sie lächelte verständnisvoll.

"Das kann ich gut verstehen. Ich weiß nicht, ob ich das in der Situation so gepackt hätte wie du. Uni, Masterarbeit, dann die Kinder...". Ich winkte ab.

"Muss ja irgendwie gehen", meinte ich.

Als dann die Sonne unterging waren Johanna und ich noch so in das Gespräch vertieft, dass wir diese niedliche Szene fast verpasst hätten. Erst als Marita uns darauf aufmerksam machte, konnten wir sehen, wie süß sich Raphael und Fiona umarmten.

In der ersten Woche nach den Semesterferien standen Toni und ich nach den Vorlesungen noch draußen vor dem Unigebäude und quatschten miteinander. Plötzlich fragte sie mich:

"Lucas, hast du noch ein bisschen Zeit oder musst du bald gehen?".

"Ich denke, ich habe noch Zeit, sollte nur kurz zu Hause anrufen und Bescheid geben". Toni wusste natürlich sofort, warum. Mit Kind war man eben nicht mehr ganz so flexibel, wobei ich ja nun wirklich nicht klagen konnte, weil wir eben doch zu viert waren und einer da eigentlich immer Zeit hatte. Und die Großeltern waren ja auch noch da. Susan bestätigte, dass es kein Problem war, wenn ich später käme, und so konnte ich Toni also zusagen. Sie lud mich ins Hard Rock Cafe, was nicht weit vom Unigelände entfernt war, ein.

Im Hard Rock Cafe suchten wir uns einen netten Platz und gaben unsere Bestellung auf.

"Super, dass wir quatschen können", sagte Toni, als der Kellner wieder weg war"

"Ist etwas passiert?", fragte ich sie.

Sie lächelte geheimnisvoll und nickte leicht dabei.

"Es ist... völlig unfassbar", begann sie. "Aber ich bin verliebt", sagte sie dann zu mir. Nun, das war nun keine große Überraschung für mich. Da mir das Gegenstück vor kurzem ebenfalls so eine Andeutung gemacht hatte, brauchte ich gar nicht lange fragen, um wen es sich denn bei dem Glücklichen handeln könnte.

"Und... weiß derjenige, den das betrifft, denn auch davon?", hakte ich nach.

"Ich denke schon", sagte sie und lächelte wieder. Sie strahlte richtig, während sie das sagte. "Zumindest könnte unser Kuss so etwas suggeriert haben". Also waren die beiden nun schon so weit. Ich freute mich für die beiden, Oli hatte nach diesem ganzen Krankheitsmist eine liebe Freundin verdient, und Toni einen super Kerl wie Oli. Die beiden passten gut zusammen, fand ich.

"Davon ist auszugehen, ja", grinste ich sie an. "Ich freue mich, Toni!", fügte ich noch hinzu.

Doch dann wurde ich wieder ernster.

"Ich weiß nicht, über was ihr in den letzten Wochen gesprochen habt und über was nicht und es geht mich auch nichts an. Aber weshalb er vor den Semesterferien im Krankenhaus war, das weißt du. Und dass das nicht die einzige Sache bisher war, weißt du vielleicht auch. Er hat schon richtig viel Mist erlebt, und er braucht da eine Partnerin, die hinter ihm steht. Was ich damit sagen will..."

Toni unterbrach mich.

"Ich weiß, was du damit sagen willst". Sie drückte ihre Augen zu und wurde plötzlich ganz ernst. Als sie weitersprach, war sie ganz leise und ich musste mich wegen der lauten Musik hier drin echt anstrengen, damit ich sie noch richtig verstand. "Was glaubst du denn, wie es in mir in den letzten Wochen gekämpft hat? Ich weiß, dass er Leukämie hatte, und ich weiß, dass er jederzeit erneut Krebs bekommen kann. Ich weiß sogar, dass er nie Kinder bekommen wird. Er war schonungslos offen zu mir, Lucas, er hat sich noch mehr dagegen gewehrt wie ich, als er merkte, dass das ernster wird". Sie machte eine bedeutungsschwangere Pause und ließ mir damit Zeit, über ihre Worte nachzudenken. Wie hatte ich davon ausgehen können, dass sich die beiden kopf- und gedankenlos in etwas stürzen könnten? Nur weil sie optimistische, fröhliche Menschen waren?

"Irgendwann hat er sich kaum mehr gemeldet", fuhr sie fort. "Ich habe ihn dann angerufen und gefragt, was los ist, da hat er gemeint, dass ich mir einen gesunden Kerl suchen sollte. Daraufhin habe ich geweint. Noch am Telefon, Lucas! Woraufhin er dann zu mir gefahren kam und wir die halbe Nacht geredet haben. Und ich immer mehr merkte, wie wichtig er mir ist und ich ihn nicht aufgeben kann. Das habe ich ihm auch gesagt, woraufhin wir uns dann... ja, zum ersten mal geküsst haben. Das war am Samstag, und seither schwebe ich irgendwo im 7. Himmel herum. Ich bin wirklich verliebt. Ich weiß, dass es hart werden wird, ich habe mir das wieder und wieder überlegt, aber es ging einfach nicht anders. Was soll ich denn bitte machen, wenn er genau derjenige ist, den ich möchte? In so einem Fall nehme ich das doch alles in Kauf, das kannst du mir glauben". Und wie ich ihr das glaubte.

 

Und ich erinnerte mich, dass so ähnliche Worte auch Johanna zu mir gesagt hatte. Sie hatte gesagt, dass sie alles mit mir durchstehen würde, genau wie Toni nun auch zu Oli. Was für ein Armutszeugnis für mich, dass ich Toni das sofort glaubte und zutraute, aber Johanna diese Bürde nicht hatte aufhalsen wollen und deshalb mit ihr Schluss gemacht hatte...

"Ich wollte dir wirklich nicht zu nahe treten", sagte ich zu ihr. "Und ich glaube dir sofort, dass er sich auf dich verlassen kann. Es ist nur, dass es nicht gut gewesen wäre, wenn das für dich nicht mehr als ein Flirt, ein kurzes Abenteuer, bedeutet hätte. Diese Enttäuschung hätte ich ihm dann gerne erspart. Und da ich dich so gut kenne, kann ich das ja mit dir besprechen"

"Und das ist ja auch gut so", meinte sie.

"Auf jeden Fall freue ich mich richtig für euch!", sagte ich dann und lächelte Toni an.

"Danke!", gab sie zurück, und nun kehrte das strahlende Lächeln auf ihr Gesicht zurück. "Du hast einen tollen Bruder, den hättest du mir ruhig schon früher vorstellen können". Ich schmunzelte.

"Nächstes Mal denke ich daran", sagte ich zu ihr.

Es war eine Woche vor Raphaels 2. Geburtstag, als ich die letzte Therapiesitzung hatte. Dr. Eigner und ich hatten noch mal über die Punkte gesprochen, die ich für mich erarbeitet hatte und die mir wichtig waren. Diese Liste hatte ich für mich zusammengestellt, wie ich mich sah:

 

- ich liebe mein Kind

- ich war gesellig

- ich brauchte meine Familie

- ich mochte mein Studium und somit den Beruf des Architekten sehr

- ich ging gern aus, traf mich gern mit Freunden

- Musik war mir wichtig

- ich konnte ganz gut kochen 

 

Und das war die Liste von den Dingen, die ich in der Zukunft wollte:

 

- ein Urlaub mit meinem Sohn

- Zufriedenheit

- weiterhin ein gutes Verhältnis zu Familie und Freunden haben

- gesund bleiben, und das galt auch für meine Lieben

- als Architekt arbeiten

- das Haus halten können

- endlich lernen, wie man den Garten richtig pflegt

 

Natürlich hatte Dr. Eigner bemerkt, dass Johanna auf keiner der beiden Listen war.

"Ja, ich habe sie auf keine der Listen gesetzt, mit Absicht", sagte ich zu meinem Therapeuten.

"Erklären sie mir das", forderte er mich auf, und ich atmete tief ein und wieder aus.

"Weil ich sie schon einmal völlig übergangen habe und das nicht mehr machen würde. Alles, was mit ihr zusammenhängt, muss auch sie entscheiden". Dr. Eigner machte sich Notizen, dann sah er von seinem Block auf und mich an.

"Gut. Ich habe ja schon in den letzten Sitzungen gesagt, dass sie die richtige Richtung eingeschlagen haben. Sie sehen das völlig richtig. Und denken sie daran, dass sie sich bei ihr entschuldigen wollten. Es wird ihnen gut tun, und auch für Johanna wird es eine Bedeutung haben, egal, ob sie die Trennung bereits verarbeitet hat oder nicht, aber davon ist nach zweieinhalb Jahren auszugehen". Ich nickte.

"Ja, das stimmt. Ich werde daran denken"

"Schön. Und denken sie auch daran: Ängste zu haben ist natürlich, ohne sie wäre die Menschheit nicht so weit gekommen, weil sie uns vor Gefahren warnt. Sie müssen jetzt also nicht plötzlich überhaupt keine Ängste mehr haben, aber es ist wichtig, dass die Ängste nicht ihr Leben bestimmen. Ich denke, dass sie im letzten Jahr unserer Gesprächstherapie da sehr viel in sich bewegen konnten und ich sie nun mit einem guten Gefühl entlassen kann. Rufen sie mich an, wenn sich das ändern sollte oder wenn ihnen sonst etwas auf dem Herz liegt. Und melden sie sich bitte auch kurz, wenn sie das Gespräch mit Johanna hatten. Ansonsten wünsche ich ihnen nun alles Gute, Herr Schiller".

"Vielen Dank", sagte ich, stand auf und reichte Dr. Eigner die Hand. Und dann verließ ich die Praxis zum letzten Mal. 

Dann war Raphaels Geburtstag da, und Johanna und ich hatten Familie und enge Freunde eingeladen.

Stolz wie noch was saß unser zweijähriges Söhnchen in seinem Hochstuhl, war von allen reich beschenkt worden und wartete nun auf seinen Geburtstagskuchen.

Johanna hatte ihm einen Schokoladenkuchen gebacken, der super schmeckte, und den sich alle schmecken ließen.

Ich bereitete dann das Abendessen vor, es würde einen Braten geben.

Beim Blick auf meine Mutter fiel mir wieder auf, dass ich sie in den letzten Jahren unterschätzt hatte. Für mich war sie innerlich da stehen geblieben, als mein Vater gestorben war. Ich hatte mich für sie verantworlich gefühlt, wollte sie schützen.

 

Doch dem war nicht mehr so, schon lange nicht mehr. Sie meisterte ihr Leben, hatte eine Arbeit gefunden. Ich hatte ihr mit der Trauerbewältigung und dem Zulassen der Erinnerungen an Papa geholfen, alles andere hatte sie super selbst hinbekommen.

 

Ich traute ihr jetzt sogar zu, dass sie von Oli erfuhr. Es wäre mir wichtig, an so einem Tag wie heute beide hier sitzen zu haben und ich hoffte, dass sich bald ein Gespräch ergeben würde.

Ellen, Johannas Schwester, ihr Mann Marcel...

... und der kleine Racker der beiden, Julian, waren ebenfalls da.

"Na Benny, wäre ein Kind nicht auch was für dich und Amber?", wollte ich von Benny wissen, als der sich was zum Trinken holte. Er grinste mich an.

"Und falls wir das wollten, würden wir dir das doch nicht sofort auf die Nase binden", sagte er.

"Natürlich", lachte ich zurück. Dabei konnte ich mir nicht vorstellen, dass die beiden mal keine Kinder bekommen würden. Irgendwann später vielleicht mal. Amber war noch so jung, und sie arbeitete noch nicht lange in ihrem Beruf als Bürokauffrau, und Benny hatte ebenfalls erst vor kurzem eine befristete Stelle als Wissenschaftler in einem Labor gefunden. Er war Lebensmitteltechniker und hatte damals mit dem Job als Wahlkampfhelfer lediglich sein Studium finanziert. Außerdem war die Wohnung der beiden sehr klein, ein Kind würde da nicht mehr hineinpassen, und ich schätzte einfach, dass sie deshalb jetzt noch nicht an ein Kind dachten.

Weil es nun eindeutig an der Zeit war, mich bei Hanna zu entschuldigen, nahm ich mir ein Herz, nachdem wir beide im Arbeitszimmer an Architektenplänen gearbeitet hatten und fragte sie:

"Johanna, ich müsste etwas in Ruhe mit dir besprechen. Ich würde dich auf ein Eis einladen, hast du Zeit?". Sie sah mich zuerst verwirrt an, doch weil wir wegen Raphael natürlich immer wieder Dinge besprechen mussten und das nicht ungewöhnlich war, sagte sie zu. Ungewöhnlich war jetzt nur, dass wir das nicht hier sofort besprachen sondern auswärts. Aber ich brauchte für dieses Gespräch wirklich absolute Ruhe.

Im "Prima Gelato" bestellten wir uns ein leckeres Eis, und dann fragte mich Johanna:

"Was wolltest du denn jetzt mit mir besprechen?". Äh ja, genau. Sollte ich jetzt einfach so nebenbei die Entschuldigung sagen? Nein, das konnte ich jetzt nicht.

Also fragte ich sie irgendetwas zur Masterarbeit und zu den Quellen, die sie verwendet hatte. Etwas, was ich eigentlich wusste, aber ich musste ja jetzt erst mal Zeit gewinnen. Und sie erklärte mir das natürlich bereitwillig, ahnte nicht, dass es mir bei diesem Treffen um was ganz anderes ging.

Ich starrte sie an und hörte kaum mehr, was sie sagte. Sie war so schön. Das war das, was mir immerzu im Kopf herumspukte. Jahrelang nicht von mir bemerkt, und dafür könnte ich mich heute noch ohrfeigen.

 

Doch nein, da gab es ja noch etwas, was eindeutig viel schlimmer gewesen war und weshalb ich mich nicht nur ohrfeigen, sondern noch viel Schlimmeres tun könnte: Diese Trennung. Wir waren zusammen gewesen und ich hatte es weggeworfen.

Doch ich hatte während der Therapie sehr viel über mich gelernt, über mich und auch die anderen. Ich war mehr als bereit, wieder eine feste Beziehung einzugehen.

 

Und Johanna war meine Traumfrau, immer noch. Und genau das sollte ich ihr sagen.

 

Doch vorerst quatschten wir über mein Studium, den Architektenjob, kamen dann zu Raphael und anderen Themen. Wir bemerkten gar nicht, wie die Zeit verging, das Eis war längst gegessen, wir bestellten noch etwas zu trinken und redeten weiter. Es war so vertraut, dieses Gefühl. Und noch eines: Die Erkenntnis, dass ich Hanna nach wie vor liebte. Ich war gern mit ihr zusammen, denn ich konnte bei ihr so sein, wie ich wirklich war, sie kannte mich in- und auswendig. Ich musste nicht versuchen, was unglaublich originelles zu sagen, ich musste nicht besonders geistreich sein. Nein, ich konnte so reden, wie mir der Schnabel gewachsen war.

Es war schon dunkel, als wir uns auf den Heimweg machten, und ich überredete Hanna, zu Fuß nach Hause zu gehen. Hier würden wir die nötige Ruhe haben, damit ich mich endlich bei ihr für mein dämliches Verhalten entschuldigen konnte. Und außerdem war die leise Hoffnung in mir, dass das auch ein Neuanfang für uns bedeuten könnte.

"Hanna, warte mal", sagte ich, als wir an den Schrebergärten in der Nähe unseres Hauses vorbei kamen. Wenn ich jetzt nicht endlich in die Puschen kam, war es wieder nichts.

Sie drehte sich überrascht um, und mir klopfte urplötzlich das Herz bis zum Hals. Jetzt. JETZT Lucas!!!

"Hanna...", sagte ich krächzend, und räusperte mich erst mal ausgiebig, bevor ich weitersprach. Meine Güte, da erstarb mir vor Aufregung schon die Stimme... „Ich muss dich um Verzeihung bitten“, brachte ich dann endlich heraus, und sie sah mich verblüfft an.

„Warum denn?“, fragte sie, und das wunderte mich nicht. Denn in der letzten Zeit hatte ich ja nichts getan, wofür ich mich entschuldigen müsste.

„Weil ich einen großen Fehler gemacht habe“, sagte ich zu ihr, war schon versucht, ihre Hand in meine zu nehmen, wollte sie aber nicht bedrängen und rief meine Hand zur Ruhe. Hanna sah mich verständnislos an.

„Ich wüsste jetzt nicht, wovon du sprichst. Es ist doch alles in Ordnung…“

„Ich rede von dem Nachmittag vor zweieinhalb Jahren“, erklärte ich sofort und beobachtete sie. Nun wurden ihre Augen groß, ich konnte praktisch zusehen, wie bei ihr der Groschen fiel.

"Lucas...", sagte sie dann, sprach aber nicht weiter. Also sagte ich endlich zu ihr, was mir schon so lange auf der Seele lag.

„Hanna, es tut mir so leid, was ich da gesagt habe. Ich weiß, dass ich dir sehr weh tat. Und ich weiß auch, dass es falsch war, einfach eine Entscheidung zu treffen, ohne mit dir über alles gesprochen zu haben. Aber ich dachte, dass du mit mir unglücklich warst, und das hätte ich nicht ertragen. Als ich deine Tränen sah, habe ich daran gedacht, wie schlecht es meiner Mutter ging, damals, als mein Vater gestorben war. An einem Tag kam ich von der Schule und sie lag so auf dem Fußboden, dass ich schon dachte, dass sie nun ebenfalls tot war. Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Angst in diesem Moment in mir aufgekommen ist. Ich ging zu ihr und sah, dass sie noch atmete, aber diesen Schock habe ich lange nicht verwunden. Erst jetzt konnte ich diese Bilder dank eines tollen Therapeuten aufarbeiten. Glaube mir, es hat sich einiges geändert, du bräuchtest keine Angst haben, dass ich mal wieder so eine Kurzschlusshandlung machen würde“. Ich atmete heftig, weil ich diese Worte schnell gesagt hatte. Johanna sah mich etwas überrascht an.

„Du hast eine Therapie gemacht?“, fragte sie dann und ich nickte.

"Sie war überfällig. Ich habe einiges selbst geschafft, aber alles eben nicht, und während unserer Beziehung kamen dann diese ganz alten Ängste plötzlich wieder raus. Ich hatte Angst, dich zu verlieren, so wie ich früher die Angst hatte, meine Mutter zu verlieren. Du erinnerst dich ja sicher noch, wie oft ich dir hinterhertelefoniert habe oder sogar zu dir gefahren bin, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist?"

„Natürlich. Und du weißt auch ganz genau, dass ich das zusammen mit dir durchgestanden hätte!“, warf sie mir vor. Zu Recht natürlich.

„Ja, aber dann kam noch hinzu, dass ich das Gefühl hatte, dass du eifersüchtig warst, auch wegen meiner Vergangenheit. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass du an meiner Seite unglücklich warst“. Hanna seufzte auf und überlegte kurz.

„Weißt du“, begann sie dann, „natürlich hatte auch ich Angst, dich zu verlieren. An eine andere Frau. Aber die Angst hielt sich insofern in Grenzen, weil ich dir auch sehr vertraute. Das war eine Sache, mit der ich auch immer besser leben konnte, weil ich das Gefühl hatte, dass das mit uns was Besonderes war…“. Sie stockte und hielt inne, während ich ihre Worte auf mich wirken ließ. Ja, sie hatte mir vertraut, und was hatte ich als Dank dafür getan? Mit ihr Schluss gemacht. Meine Güte, jetzt, da wir darüber sprachen, nahm es mich noch mehr mit. „Ich hätte mit dir reden müssen“, sagte sie dann und sah mich an. „Genau über das, und natürlich hätte ich dir auch viel früher sagen müssen, dass wir Eltern werden. Dann hättest du es sicher besser verstanden, dass ich eigentlich grundlos in Tränen ausgebrochen bin. Es ist doch klar, dass du dir darüber Gedanken gemacht hast und daraus deine Schlüsse zogst. Leider waren es die ganz falschen“.

„Was nicht entschuldigt, dass ich so überreagiert habe“, sagte ich und nahm nun doch ihre Hand in meine, ich hielt es kaum mehr aus. Es erinnerte mich sofort an den Tag, an dem wir zusammen gekommen waren. Johanna starrte kurz auf unsere verschlungenen Hände, dann entfernte sie sich zwei Schritte nach hinten. Verdattert sah ich sie an. Jetzt war ich doch zu übereifrig gewesen!

„Es tut mir leid! Ich…. lass uns weiterreden, bitte!“, bat ich sie.

„Nein. Es ist doch schon alles gesagt. Wir haben beide Fehler gemacht, und sicher haben wir auch beide daraus gelernt“, sagte sie.

„Das haben wir. Also ich auf jeden Fall“, bestätigte ich und kam ihr etwas näher. „Aber eines solltest du noch wissen“, sagte ich dann leise, denn das Wichtigste fehlte ja noch. Sie sah mir von einem Auge zum anderen, und mir wurde ganz warm ums Herz. Es fühlte sich an wie früher, und hoffnungsvoll sagte ich dann:

„Hanna, ich habe nie aufgehört, dich zu lieben. Ich möchte, dass wir wieder fest zusammen sind“. Ich lächelte sie an und wartete darauf, dass sie nun etwas zu mir sagte. Am besten natürlich, dass auch sie mich noch liebte und sie mir noch eine Chance gab.

"Nicht", sagte sie dann aber leise, und mein Magen krampfte sich zusammen. Tränen bahnten sich einen Weg aus ihren Augen, und ich fragte mich, warum meine Worte diese Reaktion bei ihr ausgelöst hatten. Was hatte ich denn falsches gesagt?

"Hanna?", fragte ich nach, "Was soll ich nicht? Dir sagen, dass ich dich liebe? Mich dafür entschuldigen, einen Fehler gemacht zu haben? Dich um Verzeihung bitten?". Sie wischte sich über die Wangen und schüttelte den Kopf.

"Deine Worte... bedeuten mir wirklich was, Lucas. Deshalb auch gleich wieder diese dummen Tränen". Sie holte noch einmal tief Luft bevor sie fortfuhr: "Das alles ist vorbei, und es ist lange her. Ich habe einfach sehr lange gebraucht, bis ich unsere Trennung verkraftet hatte, aber jetzt ist sie abgehakt". Sie hatte schnell gesprochen, und energisch. Abgehakt... Nein, so schnell wollte ich nicht aufgeben.

"Ich weiß, dass ich einen riesigen Fehler gemacht habe, und deshalb wollte ich mich entschuldigen. Du sollst das wissen, dass es natürlich auch in mir gearbeitet hat, damals schon und auch jetzt noch", sagte ich zu ihr. 

"Das merkt man auch", sagte sie. "Aber du hattest mich wirklich sehr verletzt, ich konnte nicht fassen, dass du mir das so sagen konntest!"

"Ich weiß", sagte ich zerknirscht. "Aber..."

"Nein, es ist gut!", sagte sie nun lauter.

"Aber wie soll ich dir denn beweisen, dass ich mich geändert habe?". Nun war ich auch lauter geworden, die Situation war aufwühlend. Und es lief gerade ganz gewaltig schief.

Sie kniff die Augen zusammen, holte tief Luft und dann sah sie mich an.

"Du musst mir gar nichts beweisen"

"Wenn ich das aber doch will! Genau das!"

"Es ist zu spät. Es ist in den letzten Wochen viel passiert, ich habe meinen inneren Frieden gefunden. Wir sind ein gutes Team, wenn es um Raphael geht, und das ist doch super und mehr, als wir in unserer Situaion erwarten konnten. Aber mehr geht nicht mehr, definitiv". Mein Herz klopfte so hart an meine Rippen, dass es weh tat. Es ging nicht mehr... Das bedeutete wohl, dass sie mich nicht mehr liebte. War es das?

Ich brachte kaum die nächsten Worte heraus:

"Das heißt, dass...", doch sie tat mir den Gefallen und unterbrach mich, weil sie sicher wusste, was ich fragen wollte.

"Du musst wissen, dass ich einen Freund habe", sagte sie dann.

 

Und ich stürzte geradewegs in die Hölle.

"Es tut mir leid", sagte sie leise, bevor sie sich umdrehte und den Weg zu unserem Haus alleine ging. Und ich stand wie angewurzelt da und versuchte, mich auf den Beinen zu halten und nicht einfach umzukippen.

 

Sie hatte also einen neuen Freund. Die Worte hämmerten in meinem Kopf und ließen mein Blut in meinen Ohren rauschen. Nach und nach wurde mir bewusst, was das bedeutete: Ich hatte sie tatsächlich verloren.

Notenbild ist verlinkt und führt zu einem Video.

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Zu Hause war von Johanna nichts zu sehen, sie war vielleicht in ihr Zimmer gegangen. Oder telefonierte mit ihrem Freund. Gott, was tat dieser Gedanke weh!

 

Raphael spielte in seinem Zimmer, und ich gab meinem Süßen einen Kuss, bevor ich ihn auf den Arm nahm und mit ihm Zähne putzen ging. Das war so herrlich alltäglich, und das brauchte ich jetzt. Und wenn Susan oder Marita mit ihm schon Zähne geputzt hatten, dann würde er heute Abend eben besonders saubere Beißerchen haben. Danach las ich ihm noch etwas vor, ein Bilderbuch über Zootiere, was er sehr mochte, dann legte ich ihn ins Bett. 

Und dann ging ich hinaus in unseren Garten und setzte mich auf die Bank, die schon ziemlich kühl war. Immerhin war bereits Herbst, und die Nächte wurden schon empfindlich kalt.

 

Ich starrte auf den Sandkasten vor mir, den wir noch abdecken mussten. Mir fielen viele schöne Stunden ein, die wir diesen Sommer hier draußen verbracht hatten.

 

Ich war also nicht nur dumm, weil ich mich von einer Frau wie Johanna trennen konnte, sondern auch noch lahm, weil ich es nicht schaffte, mich mit ihr zu versöhnen, bevor sie mir ein anderer Kerl wegnahm. 

 

Dummer, lahmer Lucas Schiller.

 

Das hast du nun davon.

 

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19.03.19 Endlich! Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich die Seite nun fit für die DSGVO gemacht, alles ist online und ihr könnt hier wieder die Abenteuer meiner Schillers lesen!

 

Ich wünsche euch viel Spaß dabei!

 

 

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