Monster!

oder: Schattenjagd

"Er wird jeden Moment hier sein", sagte Gerda zu ihrem Mann Albert.

"Ich weiß", brummte dieser übellaunig. "Und ich überlege immer noch, warum wir uns auf DAS eingelassen haben. Wir hätten einfach nein sagen sollen". Gerda sah ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an.

"Er ist dein Cousin", sagte sie dann, als wäre das Erklärung genug.

"Diese Tatsache hat ihn auch nicht davon abgehalten, kriminell zu werden und die Familie in den Schmutz zu ziehen"

"Jugendsünden, Schatz", sagte Gerda geduldig. "Er hat seine Lektion gelernt, glaube mir. Jeder verdient eine zweite Chance"

"Jugendsünden!", sagte Albert verächtlich. "Der Kerl war 20 Jahre alt, als er dabei erwischt worden ist, wie er mit seiner Bande Autos geknackt hat. Von der Körperverletzung ganz zu schweigen. Mit 20 sollte man so klar bei Verstand sein, dass man weiß, dass man so etwas nicht tut!". Gerda seufzte auf.

"Ich weiß", sagte sie dann und dachte daran, wie sie wohl reagieren würde, wenn eines ihrer vier Kinder im Knast gesessen hätte, weil man es beim Autodiebstahl erwischt hätte. Sicher empfand man dann noch mal anders.

Auch Albert seufzte nun auf.

"Was ist, wenn er in der Zeit, die er hier ist, wieder auf die schiefe Bahn gerät? Was passiert dann mit uns?", fragte er besorgt.

"In den drei Wochen Überbrückungszeit wird er schon nichts anstellen!", meinte sie.

"Dein Wort in Gottes Ohr!", sagte Albert. "Ich glaube nicht daran".

"Sein Bewährungshelfer hat gemeint, dass er eingesehen hat, dass er etwas Falsches getan hat", erinnerte Gerda.

"Natürlich hat er das gesagt!", warf Albert zurück. "Oder glaubst du, dass Christian dem Bewährungshelfer sagt, dass er vorhat, gleich das nächste Auto zu knacken?"

"Das natürlich nicht", wiegelte sie ab. "Aber Herr Momsen hätte es doch gemerkt, wenn Christian nur halbherzig geläutert wäre. Das ist ein Profi! Ich denke, wir sollten ihm vertrauen. Beiden", fügte sie hinzu.

Stille trat zwischen das Ehepaar, bis Gerda sagte:

"Bitte, Albert! Es ist dein Cousin, der aus dem Knast raus gekommen ist. Er wird in eine betreute WG gehen und sein Leben auf die Reihe bekommen! Gib` ihm bitte die Chance, die er verdient! Sicher gab es etwas, das ihn aus der Bahn geworfen hat"

"Ich sehe das anders", meinte Albert. "Es gibt niemandem das Recht, etwas Unrechtes zu tun, wenn mal etwas nicht so läuft wie geplant. Oder raube ich jetzt Banken aus, nur weil ich keinen Job habe und das Geld bei uns so knapp ist?". Gerda wurde ein wenig rot.

"Nein, natürlich nicht. Ich heiße das alles ja auch nicht gut, ich möchte nur, dass du dich zusammenreißt, damit wir die kommenden drei Wochen gut über die Bühne bringen. Wäre das Zimmer in der WG pünktlich frei geworden, müsste er jetzt nicht noch den Zwischenstop bei uns machen. Drei Wochen, Albert! Du kannst ihm ja aus dem Weg gehen, wenn du denkst, dass das besser ist".

"Das werde ich", brummte Albert in seinen Bart. Und dann warteten die beiden auf die Ankunft von Alberts Cousin Christian Kappe, der frisch aus dem Gefängnis kam.

Und tatsächlich: Kurz darauf stieg ein junger Mann die Stufen zu der Haustüre der Kappes hinauf.

Als es klingelte, ging Gerda vor, um Christian zu begrüßen, Albert folgte ihr widerwillig.

Die Begrüßung zwischen den Cousins missglückte erheblich.

"Na, Alda! Was geht?", begrüßte Christian Albert. Der entrüstete sich sofort.

"Sag´ mal, kannst du uns nicht so begrüßen wie jeder andere auch?". Christian verdrehte die Augen.

"Pft, wie jeder andere! Sehe ich so aus, als wollte ich wie jeder andere sein? Ich rede so, wie ich will!"

"Komm` erst mal rein, Christian", versuchte Gerda, die Situation zu retten.

"Hört mir ja mit diesem Scheiß Namen auf! Ich werde von allen entweder Chris oder Kiki genannt. Sucht euch was aus", sagte Chris und stolzierte an den beiden vorbei ins Wohnzimmer.

 

Und Gerda und Albert ahnten beide, dass die nächsten Tage nicht sehr einfach werden würden.

Am nächsten Morgen hatte Gerda Frühstück für alle gemacht. Chris setzte sich zu den anderen an den Tisch.

"Ey, Kleine! Ist deine Pickelcreme ausgegangen, oder was?", begrüßte er Miranda, die aus allen Wolken fiel. Sie war gerade in einer dieser pupertären Phasen, in denen man sich immer irgendwie zu hässlich erschien, egal, was man tat. Und dann kam der mit diesem Spruch daher? Der Schultag war für sie jedenfalls gelaufen.

Zwischen Albert und Chris gab es in den nächsten Tagen noch größere Spannungen. Keiner akzeptierte die Lebensweise des anderen. Und da Albert psychisch eh nicht mehr auf dem besten Stand war, wurde sein Zustand praktisch stündlich schlimmer.

Stundenlang konnte er auf dem Sofa liegen, ohne sich um was zu kümmern, während Gerda ihrem schweren Job im Krankenhaus nach ging. Albert haderte mit der Welt im Allgemeinen und mit Christian im Besonderen. Und verlor so sogar seine eigene Familie aus den Augen.

Zu diesem Streß zu Hause kam dann auch noch hinzu, dass er einfach keinen neuen Job fand. Gerade jetzt im Sommer, während der Urlaubszeit, waren die Stellenangebote rar gesät. Und wenn es dann doch eine Stelle gab, auf die er sich bewarb, hagelte es Absagen. Albert fühlte sich mehr und mehr unnütz.

Dem Haushalt sah man es bald an, dass es Albert immer schlechter ging und mit Christian auch noch das reinste Ferkel eingezogen war. Dieser kümmerte sich schlicht um nichts.

 

Gerda kam mit der Schadensbegrenzung kaum mehr hinterher und war froh, dass zumindest die größeren Kinder immer wieder zu einem Freund oder einer Freundin zum Spielen gehen konnten, die kleine Elvira schlief noch viel und bekam deshalb gottlob auch nicht viel mit.

Aber nicht nur Albert kam an seine Grenzen. Auch Gerda war bald mit den Nerven am Ende. Ihren Mann so zu sehen traf sie sehr. Christian war erst seit fünf Tagen im Haus, und schon versank hier alles im Chaos. Gerda musste sich regelrecht dazu ermahnen, dass es ja nur noch wenige Tage waren, bis Chris in seine betreute WG gehen konnte, um hier durchhalten zu können.

Und während sich Gerda also durchkämpfte, war Albert kurz davor zu verlottern. Er registrierte es nicht einmal mehr, dass er im Schlafanzug nach draußen ging, um die Post zu holen.

Doch dann kamen eines Tages zwei Freunde von Chris zu Besuch. Die Kappes hatten keine Ahnung, wie die beiden hießen, denn zum "Hallo" sagen waren sie sich wohl zu schade. Zu uncool wahrscheinlich.

"Meine Güte!", sagte das Mädchen. Sie ließ sich Glitter nennen, ihr echter Name war allerdings Yvonne.

"Ja, ich weiß. Superspießig hier", maulte Chris, der von den beiden nur Kiki genannt wurde.

"Kannste laut sagen. Wie lange musst du noch hier bleiben?", fragte der Typ, der sich Ratte nannte, aber in Wirklichkeit Aaron hieß. Ratte!

"Zwei beschissen lange Wochen", antwortete Chris.

"Uah, sollen wir dich da rausholen? Alter, ich würd`s hier keinen Tag aushalten!", sagte nun Glitter.

Die drei setzten sich auf die Wiese vor dem Haus.

"Nee, lass mal", gab Kiki zurück. "Gibt gutes Futter hier. Irgendwie werd` ich das schon schaffen"

"Wow! Mutig!", meinte Glitter bewundernd und Kiki freute sich darüber.

"Der Knast hat mich härter gemacht. Wenn ich den geschafft habe, schaffe ich das hier auch"

"War `ne kaputte Zeit dort, was?", fragte Ratte.

"Und wie! Was für ein Theater, nur weil man einem Bonzen die Karre klauen wollte. Die holen sich die Kohle doch doppelt und dreifach wieder rein, wenn sie uns mit überteuerten Sachen übers Ohr hauen! Ich kann das einfach nicht ab!", meckerte Kiki zurück. 

"Du musst trotzdem aufpassen! Sonst kommen wir alle in Verruf, das weißt du doch! Diesem Braunem hättest du ja auch nicht die Fresse polieren müssen! Haste dir die Hände ganz schön dreckig gemacht mit dem!", warnte ihn Glitter.

"Scheiß Nazis!", brummte Kiki. "Denen kann man nicht oft genug auf die Fresse hauen!". Genau in dem Moment kam Albert hinzu. Heute mal wieder in Alltagskleidung, aber Gerda war ja auch da und passte wieder etwas besser auf ihren Mann auf. Sie hatte erst am nächsten Tag wieder Dienst.

"Chris! Hast du denn deine Lektion überhaupt nicht gelernt?", fragte Albert erschrocken. Ihm wurde schon bei dem Gedanken ganz anders, dass Chris sich während der Zeit hier bei ihnen doch wieder strafbar machen könnte. Meine Güte! Das würde er niemals verkraften.

"Ah, mein Vetter! Schon wieder ganz besorgt, was? Brauchst du aber nicht sein, ist alles cool hier. Wir quatschen nur"

"Da habe ich aber gerade anderes gehört!", erboste sich Albert und betrachtete die drei Punker. Die würden ihm doch nicht...? Er musste zugeben, dass er über Punks nicht gerade viel wusste. Dass ausgerechnet sein eigener Cousin einer von ihnen war, bekümmerte ihn.

Dann stand Kiki auf.

"Ey, Albert! Keine Panik, ist alles locker! Komm`schlag`ein! Wir wollen doch keinen Streß hier, oder?", meinte er und grinste Albert an. Dieser besah sich die ausgestreckte Hand von Kiki kurz noch voller Misstrauen, bevor er ihm dann seine Hand reichte. Es konnte ja schließlich nicht schaden, wenn sie die letzten Tage, die sie hier unter einem Dach verbringen mussten, ohne viel Ärger verbringen konnten.

Doch als Alberts Finger die Hand von Kiki berührten, verspürte er urplötzlich einen Stromschlag, der ihm durch und durch ging. Kiki hingegen lachte laut, und seine Freunde stimmten da bald mit ein.

Es war so demütigend! Die drei Punks lachten und lachten, und Albert wünschte sich ein Loch, in das er versinken konnte. Doch da sich der Boden unter ihm nicht auftat, schlurfte er mit hängenden Schultern ins Haus. Er konnte nicht mehr.

In dieser Nacht schlief Albert sehr unruhig, und Gerda wachte besorgt immer wieder auf. Etwas musste geschehen.

 

Nur was?

 

 

 

 

Ich war gerade auf der Couch gesessen und hatte mir überlegt, wie ich das Treffen mit Oliver überstehen sollte, als das Telefon klingelte.

"Schiller", meldete ich mich.

"Hallo Lucas, hier ist Gerda Kappe", sagte die leise, feine Stimme von Gerda.

"Hallo Gerda! Wie geht es dir denn?", fragte ich und stellte verwundert fest, dass mich ihre Antwort wirklich interessierte. Sie war mir wichtig geworden, schon fast eine Freundin. Ich hörte ihr räuspern am anderen Ende der Leitung.

"Nun... deshalb rufe ich an", sagte sie noch ein wenig leiser und ich presste mir den Hörer an mein Ohr, um sie besser verstehen zu können.

Irgendetwas war nicht in Ordnung!

"Gerda, was ist los?", fragte ich schon halb alarmiert. Ich dachte an ihren Mann, Spinner Albert, der ihr das Leben schwer machte. Gut, er hatte Depressionen und das war eine Krankheit, aber vielleicht brauchte er nur mal einen Tritt in den Allerwertesten. Noch einmal, dachte ich, als mir unser Kampf einfiel, den er haushoch verloren hatte.

"Ich... können wir das an einem neutralen Ort besprechen? Ich kann hier nicht so richtig..."

"Natürlich!", antwortete ich gleich. Es musste etwas Gewichtiges sein, sonst würde sie hier niemals anrufen.

"Möchtest du hierher kommen?", fragte ich sie.

"Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich das Treffen lieber in die Stadt legen", antwortete sie. Also verabredeten wir uns im Park.

Dort angekommen, umarmte sie mich so fest, dass mir fast die Luft wegblieb.

"Danke, dass du gekommen bist!", flüsterte sie leise.

"Das ist Ehrensache. Aber jetzt erzähle: Was ist los?"

Wir setzten uns auf eine Bank in dem Park und Gerda rückte nur stockend mit der Sprache heraus. Ein Zeichen dafür, dass ihr dieses Gespräch nicht leicht fiel.

"Lucas, es ist mir so dermaßen unrecht, dich um diesen Gefallen bitten zu müssen, aber es geht nicht mehr anders. Die Gesundheit von Albert steht auf dem Spiel, und das Wohl meiner Familie. Ich muss das hier machen". Das hörte sich ja absolut dramatisch an! Was war nur los?

"Kann ich dir irgendwie helfen?", fragte ich direkt.

Gerda nestelte sich nervös an den Fingern herum, sie war sehr aufgeregt.

Sie konnte mir kaum in die Augen sehen, als sie begann, zu erzählen:

"Wir haben seit einer Woche einen Mitbewohner in unserem Haus. Christian heißt er und ist der Cousin von Albert"

"Aha", machte ich und ließ ihr Zeit, um weitererzählen zu können.

"Christian ist... anders als wir. Und er lebt das auch. Albert ist deshalb völlig fertig mit den Nerven, ich habe die Befürchtung, dass sich seine Depression verschlimmert hat. Und ich fürchte, mir müssen Christian wieder ausquartieren, damit sich Alberts Zustand nicht weiter verschlechtert". Sie machte eine Pause und ich grübelte über ihre Worte nach.

"Gerda, ich habe schon zwei Mitbewohnerinnen und leider keinen Platz mehr im Haus. So leid es mir tut", sagte ich, weil ich ahnte, was sie mich fragen wollte.

"Warte, ich glaube, du missverstehst das! Es wäre nur noch für zwei Wochen, weil Chris da in eine betreute WG geht". Betreute WG? Mir schrillten sämtliche Alarmglocken im Kopf los.

"Wieso geht er denn in eine betreute WG?", hakte ich nach, und Gerda wurde augenblicklich rot.

"Nun", sagte sie leise, so dass ich schon wieder Mühe hatte, sie zu verstehen, "er hat Auflagen zu erfüllen. Er ist leider mit dem Gesetz in Konflikt geraten und hat seine Strafe abgesessen. Er muss nun wieder in die Gesellschaft integriert werden. Leider wurde sein Zimmer in der WG nun verspätet frei, so dass wir uns bereit erklärt haben, ihn die drei Wochen bis zu seinem Einzug dort bei uns aufzunehmen. Aber es klappt einfach so schlecht, und ich mache mir große Sorgen um Albert". Oha. Das musste ich nun erst einmal verdauen. Denn so schön, wie sie das sagte, war es nicht. Eher war es eine Tatsache, dass ich mir einen Ex-Knacki ins Haus holen würde!

"Gerda, das ist etwas, was ich bedenken muss. Und auch mit meinen Mitbewohnerinnen besprechen, ich kann das nicht alleine entscheiden. Ich denke, dass verstehst du", sagte ich dann.

"Sicher. Nur hoffe ich, dass ihr euch schnell entscheiden könnt, denn Albert... du weißt schon. Je früher Chris weg ist, desto besser".

"Ich bespreche das mit Susan und Marita so bald es geht", versprach ich, und dann verabschiedete ich mich von Gerda.

Am nächsten Morgen ergab sich schon die Gelegenheit für ein Gespräch.

"Mädels, wir müssen reden", begann ich.

"Ohoh, jetzt wird die Miete erhöht!", lachte Marita.

"Nein, die habt ihr ja eh schon im Voraus bezahlt", sagte ich und erinnerte sie an die vielen tausend Simoleans, die die beiden hier schon bezahlt hatten.

"Okay, dann raus mit der Sprache!", sagte Susan. Ich erzählte dann den beiden von Gerdas bzw. Alberts misslicher Lage und fragte sie, ob sie einverstanden wären, für zwei Wochen einen weiteren Bewohner hier zu haben.

"Der saß im Gefängnis?", fragte Susan erschrocken. Klar, dass sie sich gleich das markanteste Detail der ganzen Geschichte herauspickten. Hatte ich ja nicht anders gemacht.

"Ja. Aber er hat einen Bewährungshelfer, außerdem zieht er ja in zwei Wochen in eine betreute WG. Ich denke, wir haben nichts zu befürchten, immerhin hat er seine Strafe abgesessen, oder?"

"Schon, aber es wird einem schon mulmig bei dem Gedanken, dass hier im Haus dann ein Straftäter schläft", sagte Marita mit ebenfalls besorgt gerunzelter Stirn.

"Oh, Gerda hat etwas davon gesagt, dass sie ein Zelt hätten, in dem er schlafen könnte"

"Und wir können ja nachts unser Schlafzimmer abschließen", warf Susan ein.

"Das werde ich auch machen", gab ich zurück.

"Außerdem könntest du einen Artikel über einen jungen Mann schreiben, der versucht, nach seinem Gefängnisaufenthalt wieder ins richtige Leben zu finden. Wäre doch sicher was, oder?", sagte Marita zu Susan, die nachdenklich wurde.

"Keine schlechte Idee!", musste Susan zustimmen, und dem stimmte ich ebenfalls zu.

"Dann werden wir ihn hier für zwei Wochen bei uns aufnehmen?", fragte ich meine Mitbewohnerinnen.

"Ja. Dem Gesuch wurde stattgegeben", zwinkerte mir Susan zu.

"Gut, dann werde ich Gerda Bescheid geben", sagte ich und ging gleich zum Telefon, um im Haushalt Kappe anzurufen.

 

Gerda konnte es wohl gar nicht mehr abwarten, denn sie fragte mich, ob sie und Christian in zwei Stunden kommen könnten.

Nach einer Stunde und 50 Minuten klingelte es bei uns, und ich fragte mich so langsam, was für ein Typ dieser Christian wohl war und auf was ich mich eingelassen hatte, wenn ihn die eigenen Verwandten so schnell es ging loswerden wollten. Ich versuchte, mir meine Grüblereien nicht anmerken zu lassen und begrüßte Gerda. Von IHM sah ich noch nichts. Vielleicht hatten sie es sich ja auch anders überlegt und er würde nun doch nicht kommen?

"Ey! Alles senkrecht?", wurde ich urplötzlich von der Seite angesprochen.

Ich drehte mich zum Besitzer der Stimme um und sah mich einem Punk gegenüber!

 

Das war doch wohl nicht der Cousin von Albert. Oder doch?

"Äh, ja", stammelte ich nur und dieser Typ vor mir grinste. Ich sah Gerda an, die mich entschuldigend anblickte. Und ich ahnte, dass ich hier tatsächlich Christian gegenüber stand. Anders als wir, hatte Gerda gesagt. Alles klar!

 

"Gut, dass ich bei dir pennen kann. Mein Vetter ist so ein Weichei und kriegt es nicht mal auf die Reihe, wenn ich einen kleinen Spaß mit ihm mache", lachte Christian gehässig auf.

"Du hast ihm einen Stromschlag mit einem dummen Spielzeug verpasst, obwohl du wusstest, dass er angeschlagen ist", warf Gerda sofort ein.

"Pah, angeschlagen! Hat dich ja ganz schön im Griff, dein Alter!", sagte Chris verächtlich.

"Chris!", erboste sich Gerda sofort, "Wie kannst du nur! Das ist also der Dank...", fuhr sie fort, wurde von ihm allerdings schnell unterbrochen:

">Das ist also der Dank!< Blablabla! Wie ich diese Scheiße hasse! Alle meinen es ja immer nur sooo gut mit mir, was? Das kannste dir knicken!". Ich stand daneben und machte mich mit dem Gedanken vertraut, dass die nächsten zwei Wochen alles andere als leicht werden würden.

Ich räusperte mich, um auf mich aufmerksam zu machen.

"Hast du das Zelt dabei?", fragte ich ihn.

"Logo! Ist aber nicht meines, sondern das von Albert".

"Okay", sagte ich. Woher das Ding kam, war mir letztlich egal. Die Hauptsache war, dass dieser Kerl nicht in meinem Haus schlief. "Wo sollen wir es aufbauen?"

"Hier auf der Terrasse", schlug er vor.

"Aber das wird doch sehr hart beim Schlafen", warf ich ein. "Der Garten ist groß genug..."

"Alter, hier gibt es eine Tür ins Haus rein. Meinst du, ich will immer eine halbe Weltreise machen, wenn ich was zwischen die Kiemen hauen will?". Ich sah ihn unverständlich an, so dass er die Augen verdrehte.

"Essen", sagte er dann nur und holte dann das Zelt aus dem kleinen Auto von Gerda und Albert.

Na gut, wenn er meinte... ich musste ja nicht dort draußen schlafen! Also bauten wir das Zelt auf, wohingegen Chris` Part weitgehend daraus bestand, mir zu sagen, was ich zu tun hatte.

Nachdem das Zelt endlich stand und sich Chris dort wohnlich einrichtete, ging ich mit Gerda ins Haus. Schuldbewusst sah sie mich an.

"Es tut mir leid, ich hätte dir sagen sollen, dass er ein Punker ist. Ich sagte ja, dass er anders ist als wir". Ja, das hatte sie gesagt. Und ich hatte nicht gewusst, dass dieser kleine Zusatz so wichtig sein würde.

"Das hast du gesagt, ja", sagte ich und überlegte, ob ich ihr sagen sollte, dass ich solche Feinheiten, ob jemand einer Subkultur angehörte, beim nächsten Mal gerne davor wüsste.

 

Aber ich ließ es. Gerda saß so fertig neben mir, so ausgelaugt und mit eingefallenen Wangen, dass ich es nicht übers Herz brachte.

"Er kann sich doch anständig benehmen, oder?", fragte ich und hörte sofort selbst, wie lächerlich sich das anhörte.

"Er kann sich so benehmen, dass du seine Anwesenheit kaum bemerken wirst", antwortete Gerda, und es schwang ganz klar noch mit: Er kann, wird es aber nicht.

Als sich Gerda von ihm verabschiedete, hörte ich, wie sie zu ihm sagte:

"Mache keinen Ärger, Chris, verstanden? Das ist deine letzte Chance hier!"

"Oh man, bleib`locker!", sagte er genervt.

"Die letzte Chance!", sagte sie noch einmal eindringlich, bevor sie dann ging. Und ihren Punk hier ließ.

Am nächsten Tag saß ich mit Marita beim Frühstück. Sie war schon für ihren Job angezogen, während ich noch im Schlafanzug da saß. Wir unterhielten uns darüber, dass wir wohl einen kleinen Umbau benötigten, denn im Moment noch gab es ja nur ein großes Schlafzimmer, das wir uns teilten. Das war für uns alle drei nicht mehr machbar, besonders aber für die beiden als Paar.

Dann kam Chris hinzu.

"Morgen, Folks!", sagte er in die Runde, und ich kam mir mit einem Mal unglaublich alt vor. Immerhin warf ich nicht ständig mit diesen englischen Wörtern um mich herum, dabei war Chris nur ein Jahr jünger als ich.

"Morgen", murmelten Marita und ich wie aus einem Mund.

"Wow, was für `ne Schnecke!", ließ Chris verlauten und ich sah ihn an. Marita wendete ihren Kopf langsam in seine Richtung, während er komische Blinzelzeichen mit den Augen machte.

"Ich bin vergeben", sagte Marita nur. Chris sah zwischen mir und ihr hin und her.

"Ah. Alles klar!", meinte er dann lapidar.

"Ja, alles klar", sagte Marita. "Ich und meine Freundin, die auch hier wohnt, kommen gut klar. Danke". Ich grinste in mich hinein und beobachtete Chris genau. Doch der war weniger überrascht, als ich das erwartet hätte. Anerkennend pfiff er durch die Zähne.

"Cool! Kein bisschen spießig hier, das ist gut!", meinte er. "Dann bist du wohl schwul?", wandte er sich an mich und ich verschluckte mich fast. Marita grinste mich an.

"Nein, das bin ich nicht", sagte ich. "Du brauchst also keine Angst haben, dass ich nachts über dich herfallen werde". Chris sagte nichts mehr, sondern ging dann wieder hinaus, und Marita aß mit einem fetten Grinsen weiter.

"Sag` jetzt ja nichts!", sagte ich zu ihr, und sie verteidigte sich:

"Ich habe kein Wort gesagt!", bevor sie, immer noch mit einem breiten Grinsen, weiteraß. 

Nach dem Frühstück legte ich mich noch einmal auf das Bett und dachte nach. Heute Abend würde ich Oliver treffen. Ich konnte die Gefühle, die deshalb in mir tobten, nicht beschreiben.

 

Als ich ihn angerufen hatte, hatte ich seiner Stimme angehört, dass er sich sehr freute, dass ich mich gemeldet hatte. Ich selbst war weniger euphorisch gewesen, denn immer wieder türmte sich die Frage vor mir auf, weshalb mein Vater fremdgegangen war. Warum nur? Aber um genau dieser Frage auf die Spur zu kommen, war ich mit einem Treffen einverstanden gewesen. Er hatte sich sofort angeboten, nach Two Lake City zu fahren, und so trafen wir uns heute bei "Frank". Die gewohnte Umgebung würde mich dann hoffentlich etwas lockerer machen, als ich es jetzt war.

Es war ein warmer und sonniger Sommerabend, als ich Oliver Talin vor "Frank`s Kneipe" traf.

 

Und wenn ich mir dank schwindender Erinnerungen noch leicht hatte vormachen können, dass die Ähnlichkeit zu meinem Vater gar nicht so groß war, musste ich dies spätestens jetzt korrigieren. Oliver sah meinem Vater unglaublich ähnlich. Da er die Augenpartie samt Augenfarbe von ihm geerbt hatte, während ich mit den blauen Augen meiner Oma herumlief, sah er ihm sogar ähnlicher als ich. Der Stich, der mir bei dieser Erkenntnis durch meinen Bauch fuhr, tat weh.

"Lucas! Es ist so schön, dich wieder zu sehen!", sagte Oliver erfreut.

"Ähm... ja", konnte ich nur zurückgeben. Denn als eine Freude konnte ich unser Wiedersehen nicht gerade ansehen. Aber gut, ich hatte ihn angerufen und musste da eine gewisse Höflichkeit wahren. "Sollen wir reingehen?", fragte ich dann, nur um noch etwas zu sagen.

"Ja, gern", stimmte er zu, und so trotteten wir zwei in die Kneipe.

Der Erkertisch war frei, also setzten wir uns dorthin. Und ich wusste zuerst überhaupt nicht, was ich nun sagen sollte. Doch Oliver übernahm den Anfang für mich.

"Ich war wirklich ganz schön überrascht, als du angerufen hast. Irgendwie habe ich damit gar nicht mehr gerechnet", meinte er.

"Hm, ja", machte ich wieder sehr intelligent. "Diese ganze Sache...", hat mich einen Nervenzusammenbruch gekostet, "hat mir viel zu denken gegeben. Es gibt doch noch einige Fragen, die ich gerne beantwortet hätte. Deshalb habe ich angerufen".

"Das ist doch ganz logisch", meinte Oliver.

"Sag` mal, bist du immer so verständnisvoll?", fragte ich ihn da. "Immerhin habe ich dich aus meinem Haus geworfen und dich dazu noch beschimpft. Macht dir das denn gar nichts aus?". Oliver zögerte nur kurz.

"Nein, darüber sehe ich hinweg, auch wenn es mir anders lieber gewesen wäre. Aber ich habe dich ein ganzes Jahr lang gesucht, du bist mein Halbbruder und kanntest meinen Vater. Ich möchte unbedingt, dass wir in Kontakt bleiben, also muss man über so eine Kleinigkeit auch mal hinwegsehen können"

Er war so entschlossen. Das imponierte mir schon irgendwie. Und zeigte mir, dass nicht nur ich etwas von ihm wissen wollte, sondern auch er von mir. Wir saßen im gleichen Boot.

 

"Naja, es war und ist immer noch sehr schwer für mich zu begreifen, dass mein Vater noch einen Sohn hat, der zudem jünger ist. Wie alt bist du eigentlich?", fragte ich ihn dann neugierig.

"Ich bin im März 20 geworden", antwortete er.

20...

 

Er war also dreieinhalb Jahre jünger als ich. Natürlich hatte ich kaum mehr eine Erinnerung an die Zeit, als ich drei war, dazu war das einfach zu lange her. Aber an den Tag, als ich in den Kindergarten kam und mir meine Eltern Hoppel geschenkt hatten, erinnerte ich mich noch. Und da war er schon unterwegs gewesen! Dieser Gedanke schnürte mir sofort die Kehle zu, und ich fragte mich wohl zum tausendsten Mal, ob es mein Vater gewusst hatte.

"Ich weiß, das ist hart für dich. Ich habe meine Mutter nun auch noch ein bisschen ausgehorcht. Sie hat gesagt, dass unser Vater keine Ahnung davon gehabt hatte, dass es mich gab. Sie hat es ihm nicht gesagt. Und wohl auch sonst niemandem, außer Jens, meinem Papa. Jens ist zwar nicht mein biologischer Vater, aber ich könnte ihn trotzdem als nichts anderes sehen. Ich wollte dann wissen, wie es zu meiner Zeugung kam, doch das wollte sie mir nicht mehr sagen. Ich weiß nicht, warum. Aber dir hilft es vielleicht schon mal, wenn du weißt, dass dein Vater nichts gewusst hat". Ich seufzte automatisch auf. Das half mir tatsächlich. Es wäre für mich unerträglich gewesen zu wissen, dass er immer gewusst hatte, noch einen Sohn zu haben, ohne etwas zu sagen. So gab es da zwar diese Zeugung, aber gerade ich wusste ja, wie schnell man mit einer Frau im Bett landen konnte. Auch wenn ich das natürlich immer noch nicht toll fand, dass er Mutter betrogen hatte.

"Ja, das ist tatsächlich tröstlich", sagte ich und sah Oliver an. Und wurde mir mit einem Mal bewusst, dass auch ihn die Nachricht, einen anderen Mann als biologischen Vater zu haben, aus der Bahn geworfen haben musste. Er hatte all die Jahre einen Mann als Vater angesehen, der es dann doch nicht war.

"Oliver...", begann ich, doch er unterbrach mich:

"Du kannst ruhig Oli zu mir sagen. Das machen fast alle so"

"Gut, Oli. Wie ging es dir denn, als du vor einem Jahr erfahren hast, einen anderen Vater zu haben?". Er lachte auf.

"Ja, das war auch nett. Es gab da diese... Sache, weshalb es überhaupt rauskam, dass Jens nicht mein Vater ist. Ich kann dir sagen, dass ich da wochenlang neben der Spur gegangen bin. Ich konnte nicht glauben, dass mir meine Mutter nie etwas gesagt hatte. Oder auch Jens, denn er wusste ja auch davon. Stattdessen hatte ich immer das Gefühl, in einer ganz normalen Familie groß zu werden. Ich habe übrigens noch einen Bruder, einen jüngeren. Volker heißt er, er ist 17. Eine stinknormale Familie also. Und dann wirft diese Nachricht mein ganzes Leben aus der Bahn". Oh, wie ich das kannte!

"Das Gefühl kenne ich irgendwoher", sagte ich und konnte mich zum ersten Mal heute zu einem kleinen Lächeln hingeben.

Und Oli grinste zurück.

"Das kann ich mir denken. Ich war wohl nicht sehr geschickt, dir das alles näher zu bringen, oder?". Nun wurde mein Grinsen breiter.

"Nein, allerdings nicht. Obwohl ich wohl immer so reagiert hätte, wenn mir jemand so etwas haarsträubendes gesagt hätte".

Wir tranken unsere Gläser aus und wollten gerade nach oben gehen, um noch ein wenig Billard zu spielen, als Mark von dort herunter kam. Mark!

Und er sah mich auch. Vielleicht konnten wir ja ein paar Worte wechseln, irgendetwas, das mir zeigte, dass er mir verzeihen würde.

Aber Mark ging einfach weiter und tat so, als würden wir uns nicht kennen. Ich fragte mich, was ich wohl machen musste, damit er mir wenigstens mal zuhörte. So konnte das doch nicht weitergehen!

 

Doch ich war ja heute mit Oli hier, also ging ich mit ihm nach oben zu dem Billardtisch. Wir grübelten während des Spiels, was damals wohl vorgefallen war und warum Olis Mutter nie etwas gesagt hatte. Doch natürlich kamen wir zu keinem vernünftigen Ergebnis. Die einzige, die wirklich alles wusste, war seine Mutter. Und als wir uns voneinander verabschiedeten, ahnte ich, dass wir in Kontakt bleiben würden.

 

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 Das Sims2-Singleprojekt

 

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19.03.19 Endlich! Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich die Seite nun fit für die DSGVO gemacht, alles ist online und ihr könnt hier wieder die Abenteuer meiner Schillers lesen!

 

Ich wünsche euch viel Spaß dabei!

 

 

In meiner Geschichte gibt es immer wieder Bilder, die verlinkt sind und zu Videos auf verschiedenen Video-Plattformen führen. Diese Info steht auch bei jedem der verlinkten Bilder dabei.

 

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