Ich fühlte mich ganz schön kraftlos, als ich endlich wieder zu Hause war. Doch anstatt in das Haus zu gehen, ließ ich mich unter den Baum in unserem Garten fallen.

 

Was war das nur für ein komisches Gefühl, wenn einem der Kopf vor lauter Gedanken schier zu bersten drohte, man aber gleichzeitig das Gefühl hatte, dass er vollkommen leer war?

Ich saß schon einige Minuten grübelnd da, als eine Person auf mich zugeschritten kam.

Ich bemerkte sie erst, als sie vor mir stand.

"Johanna!", sagte ich erstaunt.

"Lucas! Was machst du denn hier draußen?", fragte sie mich. Wie sollte ich den Gedankensalat meines Kopfes nur in Worte fassen?

Sie wartete meine Antwort gar nicht erst ab, sondern setzte sich kurzerhand neben mich.

"War es bei deinem Bruder so schlimm?", fragte sie mich mitfühlend. Ich hatte ihr mal an einem unserer Lernnachmittage von Oli erzählt, denn natürlich hatte sie keine Ahnung gehabt, dass ich jetzt einen Bruder hatte. Ich senkte meinen Kopf, weil ich im ersten Moment gar nicht wusste, mit welchen Worten ich ihr meine aufgewühlten Gedanken darlegen sollte.

Doch dann sagte ich einfach das, was bei mir seit heute nachmittag ständig im Kopf hämmerte.

"Oliver hat Leukämie", sagte ich krächzend. Johanna sog erschrocken die Luft ein.

"Das tut mir sehr leid", sagte sie dann. Und ich rechnete es ihr hoch an, dass sie jetzt nicht mit irgendwelchen Floskeln um sich warf, die mir jetzt in dem Moment eh nicht geholfen hätten. "Wenn du möchtest, kannst du gerne mit mir darüber reden", sagte sie einfach nur.

Und das machte ich dann auch. Zuerst noch sehr stockend, dann immer flüssiger, sprudelte es aus mir heraus, was ich an diesem Mittag erlebt hatte. Und sie hörte mir einfach nur zu.

Als ich zu der Stelle kam, in der sich Oli seine Perücke vom Kopf gerissen hatte, legte Johanna ganz sachte ihre Hand auf meinen Arm. Ich blickte überrascht auf ihre Hand, sprach jedoch weiter. Und ob ich es wollte, oder nicht, aber ihre Berührung tat mir gut. Diese kleine Geste vermittelte mir auf so eindrückliche Art, dass ich nicht allein war.

"Nun also muss ich mich entscheiden, ob ich mich testen lasse", schloss ich meinen Bericht. Es blieb kurz still, dann sagte Johanna ebenso leise:

"Dabei hast du dich schon längst entschieden". Ich sah ihr überrascht in die Augen, und sie hielt meinem Blick stand. Scheinbar kannte mich Johanna besser, als ich gedacht hatte.

"Ich hab` so eine Scheißangst, dass ich nicht helfen kann und der Idiot stirbt", sagte ich dann und musste mich regelrecht anstrengen, meiner Stimme einen halbwegs normalen Klang zu geben.

"Das glaube ich dir", sagte Johanna. "Das würde mir nicht anders gehen. Wenn ich denke, meine Schwester hätte Leukämie und meine Gewebemerkmale würden nicht passen - nicht auszudenken!". Und wieder war ich froh, dass sie nicht einfach etwas sagte wie: >Es wird schon alles gut werden<.

"Deine Schwester ist älter als du, oder?", fragte ich, und sie nickte.

"Ellen ist zwei Jahre älter als ich, und arbeitet bereits seit einem Jahr als Grundschullehrerin", antwortete sie.

"Weißt du, ich kenne Oli noch nicht lange. Wenn er mir jetzt wieder genommen werden würde, wäre das einfach... schrecklich.

"Ja, das verstehe ich. Lucas, ich würde dir raten, dich möglichst schnell testen zu lassen. Dann hast du die Gewissheit, die du dringend brauchst. Dann wirst du auch wissen, wie der Weg weitergeht. Jetzt hängst du noch zu sehr in der Luft, und diese Unsicherheit ist das Schlimme".

"Das ist wahr", stimmte ich ihr zu.

 

Wir redeten noch so lange, bis uns der Allerwerteste kalt wurde. Sie ging dann nach Hause, nicht ohne mir vorher das Versprechen abgenommen zu haben, dass ich sie sofort informierte, wenn es etwas Neues gab, oder auch, wenn ich einfach reden wollte.

Am Samstag darauf hatte mich meine Mutter angerufen. Sie wollte an diesem Tag gerne mit mir auf den Friedhof gehen. Zum allerersten Mal seit zehneinhalb Jahren.

 

Ich kam mir ganz blöd vor, weil sie keine Ahnung davon hatte, dass ihr Mann noch einen Sohn hatte. Aber ich wusste einfach nicht, ob es gut war, ihr das zu sagen oder nicht.

Als sie mir die Tür öffnete, lächelte sie mich nervös an.

"Danke, dass du so spontan kommen konntest!", sagte sie.

"Das Privileg der Arbeitslosen", sagte ich trocken.

"Nicht mehr lange, dann bist du ja ein Student", korrigierte sie mich.

Mein Blick fiel hinter sie auf die Wand mir gegenüber.

 

Unfassbar.

 

Sie hatte tatsächlich die Bilder wieder aufgehängt!

Sie sah meinen Blick und wusste natürlich sofort, weshalb ich so fassungslos auf die Wand hinter ihr starrte. Gemeinsam gingen wir hinüber, und ich besah mir seit Jahren mal wieder diese Bilder.

"Wenn du nicht gewesen wärst, würden sie heute noch in dem Karton im Keller verrotten", sagte meine Mutter.

"Weißt du, Mama, ich denke, ich habe mich einfach früher als du damit befasst", gab ich zu bedenken. Was ja auch einen guten Grund hatte. Schließlich trat nicht alle Tage ein unbekannter Bruder durch die Tür. "Aber ich bin mir sicher, dass auch du irgendwann die Erinnerungen zugelassen hättest".

"Ich bin mir da nicht so sicher. Aber im Grunde ist es auch egal. Ich bin froh, dass du mich wachgerüttelt hast".

"Ich bin auch sehr froh, dass wir wieder über Papa reden", sagte ich ehrlich. "Bist du bereit, an sein Grab zu gehen?". Meine Mama zögerte noch kurz, dann sagte sie:

"Ja, das bin ich".

Also gingen wir los, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend.

Als wir auf den Friedhof kamen und in Richtung des Grabes gingen, ließ ich meine Mutter kaum aus den Augen.

"Mama, wenn es nicht gehen sollte, dann spiel` bitte nicht die Tapfere, ja?", sagte ich höchst angespannt zu ihr.

"Keine Sorge", sagte sie seltsam tonlos. Klar, sie war aufgeregt. Aber wer könnte es ihr verdenken? Mir war es ja ähnlich gegangen an meinem ersten Besuch hier.

"Dort vorne ist es", sagte ich zu ihr.

"Ich weiß", entgegnete sie. "Lucas, würdest du mich bitte kurz alleine vorlassen?". Ich sah sie zweifelnd an, weil ich fürchtete, sie könnte am Grab zusammenbrechen.

"Bist du dir sicher, dass du das schaffst?", fragte ich sie direkt.

"Ja. Und falls doch nicht, bist du ja nicht weit weg"

"In Ordnung", gab ich mich geschlagen, und dann schritt meine Mutter alleine zum Grab ihres Mannes.

Sekundenlang stand sie einfach nur davor und starrte den Grabstein mit seinem Namen an. Dann hörte ich sie reden. Ich verstand zwar nicht, was sie zu ihm sagte, aber das war auch gar nicht nötig. Es war eine Sache zwischen ihr und meinem Vater.

Ich hörte sie auch aufschluchzen und war sofort alarmiert. Doch sie fing sich wieder, wischte sich die Tränen aus den Augen, aber sie blieb standhaft. Dann stellte sie den Strauß roter Rosen auf das Grab, den sie mitgebracht hatte.

Irgendwann drehte sie sich zu mir um und streckte mir wortlos die Hand entgegen. Natürlich wusste ich, was diese Geste bedeutete, und ging zu ihr.

"Ich bin so froh, hier zu sein", sagte sie mit krächzender Stimme.

"Ich bin auch froh, dass du das geschafft hast", sagte ich zu ihr. Wir blieben noch kurz gemeinsam an dem Grab stehen, bevor wir uns wieder auf den Nachhauseweg machten.

Zwei Tage, bevor mein Studium begann, stattete ich meinem Vater wieder einen Besuch ab. Ich sprach oft mit ihm, es war so, als müsste ich die ganzen Gespräche, die ich mit ihm in den letzten Jahren nicht geführt hatte, jetzt wieder aufholen.

"Daddy", begann ich und ging vor seinem Grab in die Hocke, in dessen Vase wieder ein neuer Rosenstrauß war. Mutter war also da gewesen, und das freute mich wirklich unglaublich. "Stelle dir mal vor: Übermorgen bin ich ein Student. Ein richtiger Student. Kannst du dir das vorstellen?". Ich sog die frische Nachtluft ein. Es war Anfang Oktober und die Nächte waren schon dementsprechend frisch.

"Ich glaube, du wärst stolz auf mich gewesen", sagte ich. Dann korrigierte ich mich: "Nein, du BIST stolz auf mich. Ich weiß, du bist irgendwo da oben und schaust hier runter". Ich machte eine Pause, in der ich seinen eingravierten Namen auf dem Grabstein betrachtete. Hier lag nur die Hülle von ihm. Er selbst war noch da, passte auf mich auf. So musste es einfach sein.

"Daddy", sagte ich dann leiser. "Oliver hat Krebs. Dein Sohn hat Leukämie! Ich habe es vor ein paar Tagen erfahren, und ich lasse in drei Tagen mein Blut testen. Was, wenn das nicht passt? Was, wenn dieser Kerl stirbt?". Ich senkte den Blick. Ja, was dann? Dann würde ich erneut ein Familienmitglied zu Grabe tragen müssen. Dann hätte ich nach meinem Vater auch noch meinen Bruder verloren. "Gott, ich darf gar nicht daran denken", murmelte ich. "Johanna hat recht. Ich darf mich jetzt noch nicht verrückt machen. Noch ist nichts entschieden".

Ich schloss die Augen. Ja, ich musste abwarten. Und wenn mein Blut nicht passte, war doch noch nicht alles verloren. Ich könnte eine Typisierungsaktion starten. Mit Hilfe der Presse vielleicht. Dann würden die Menschen sich testen lassen und vielleicht gab es dann jemanden, dessen Blutwerte stimmten.

"Ich verspreche dir", sagte ich zu dem Grabstein, "dass ich alles versuchen werde, damit er überlebt".

 

Mit diesen Worten stand ich dann auf und ging nach Hause.

Drei Tage später war ich im Krankenhaus von Little Wyoming, in dem Oliver behandelt wurde. Nachdem ich fast eine Stunde auf dem Flur hatte warten müssen, wurde ich dann in das Büro von Dr. Clemens Landefeld gerufen.

Dr. Landefeld stand sofort auf und gab mir die Hand.

"Herr Schiller, ich kann ihnen gar nicht sagen, wie froh wir sind, sie heute hier zu sehen!", begrüßte er mich überschwänglich. Er war ein junger Arzt, kleiner als ich und sah recht freundlich aus.

"Ähm... ja", stammelte ich.

"Setzen sie sich bitte", forderte er mich dann auf, bevor auch er wieder um seinen Schreibtisch ging und sich mir gegenüber setzte.

"Herr Schiller, sie wissen ja, um was es geht, und deshalb brauchen wir auch nicht lange um den heißen Brei herumreden. Ihr Bruder braucht dringend eine Stammzellentransplantation, und wir werden ihr Blut testen, um zu sehen, ob sie als Spender geeignet sind. Soweit dürfte ihnen alles bekannt sein, richtig?", begann er zu reden. Ich nickte.

"Ja, das ist mir bekannt", antwortete ich.

"Ihr Blut wird sofort an unser Labor geschickt und dort findet die sogenannte Typisierung statt, das heißt, wir ermitteln ihre individuellen Gewebemerkmale. Sollte es sich herausstellen, dass sie als Spender tatsächlich geeignet sind, was wir alle hoffen, dann wird ihnen noch einmal Blut abgenommen, das dann noch gründlicher getestet wird, dann auch auf Erreger wie etwa HIV. Stimmen diese Werte, bekommen sie einen Fragebogen von uns, mit allen wichtigen Fragen zu ihrer Gesundheit, den sie dann ausfüllen müssen. Natürlich werden sie dann auch noch einmal gründlich untersucht". Ich musste nun doch schlucken. Das war ja doch mehr, als ich erwartet hatte. Doch ich versuchte, dem Doktor auch weiterhin aufmerksam zuzuhören.

"Sollte das dann alles immer noch passen, werden sie noch einmal gefragt, ob sie wirklich spenden möchten. Nach dieser Einwilligung werden ihnen im Krankenhaus Stammzellen entnommen, ihr Bruder wird dann auf die Transplantation vorbereitet. Im Klartext bedeutet das, dass mit einer starken Chemotherapie seine kranken Zellen komplett zerstört werden. Ohne die Spende könnte er dann nicht überleben".  

Nun erschrak ich doch. Wie wenig man über diese Dinge wusste! Ich hatte bisher keine Ahnung gehabt, wie so etwas genau ablief, deshalb fuhr mir nun schon ein wenig der Schreck in die Glieder.

"Aber dann ist man ja sicher, dass meine Stammzellen passen werden, richtig? Das heißt, nachdem seine kranken Zellen zerstört wären, kämen sofort meine gesunden Stammzellen zum Einsatz, oder?", hakte ich nach. Sicher war sicher!

"Genau. Sie können sich im Übrigen zwischen zwei verschiedenen Verfahren zur Stammzellenentnahme entscheiden, sollten sie in Frage kommen. Die erste ist die Stammzellentnahme aus dem Beckenkamm, weil sich dort viele Stammzellen befinden. Diese Methode wird unter Vollnarkose durchgeführt. Die zweite Methode ist die, die heutzutage am Häufigsten angewandt wird: Die Apherese. Dabei werden ihnen an beiden Armen venöse Zugänge gelegt. Auf der einen Seite kommt das Blut heraus, fließt in einen Zellseperator, in dem die Stammzellen entnommen werden, und fließt dann in den zweiten Arm wieder zurück in den Körper. Das dauert vier Stunden und wird ambulant und ohne Narkose gemacht. Bevor dies geschieht, müssen sie sich fünf Tage lang einen Wachstumsfaktor unter die Haut spritzen, damit vermehrt Stammzellen in das Blut ausgeschwemmt werden". Nun stockte ich. Selbst spritzen? Hatte er gerade selbst spritzen gesagt?

"Also, ich glaube nicht, dass ich das könnte. Diese zweite Methode, meine ich", sagte ich schon fast zitternd. Und peinlicherweise hatte ich schon wieder vergessen, wie die hieß.

"Nun, man nimmt natürlich schon Rücksicht auf die Spender. Wenn sie also sagen, dass ihnen die Entnahme aus dem Beckenkamm lieber wäre, dann versuchen wir natürlich, das auch zu machen, keine Frage", sagte Dr. Landefeld.

"In Ordnung", sagte ich, "denn selbst spritzen, das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Auch diese zwei venösen Ausgänge... ich glaube, mir wäre es tatsächlich lieber, einfach zu schlafen, während das alles gemacht würde". Nun lächelte der Arzt.

"Wir würden das berücksichtigen, verlassen sie sich darauf", versprach er mir.

 

Dann musste ich mir Blut abnehmen lassen, anhand dessen nun meine Gewebemerkmale typisiert wurden. Und das hieß für mich und auch für Oli: Warten, bis wir Bescheid bekamen. Und ich drückte die Daumen, dass ich als Spender in Frage kam.

 

Das Ergebnis war wie erwartet schnell da. Und es war wirklich kaum zu glauben, aber ich kam als Spender in Frage! Danach wurde mein Blut noch einmal genau untersucht, ich gab meine Einwilligung ab, dass ich Stammzellen spenden würde, und Oli musste sich nun dieser starken Chemo unterziehen, damit alles Kranke aus seinem Körper abgetötet werden konnte. Ich hatte meinen Termin zur Stammzellentnahme zwei Wochen nach meiner Einwilligung, dass ich spenden würde.

Doch bevor ich ins Krankenhaus ging, fand einer unserer Höhepunkte des Jahres statt: 

 

Jahrmarkt in Two Lake City!

 

Natürlich zog ich auch in diesem Jahr wieder mit Freunden los, um mir das Spektakel anzusehen.

"Hey, Mark!", rief ich aus, als ich den Stand mit dem Luftballonschießen sah.

"Komm` mal her! Ich bräuchte mal wieder ein Erfolgserlebniss, und du bist der schlechteste Dartspieler des Universums! Also, was ist: Sollen wir hier ein paar Luftballons zerschießen?". Amber kicherte leise vor sich hin, und Marita besah sich den Stand ebenfalls neugierig.

"Trottel!", rief mir der aber nur zu, und ich ging ihm entgegen.

"Was denn?", fragte ich unschuldig.

"Ich liebäugel eher mit der Achterbahn, etwas für die harten Jungs. Aber du hast vermutlich schon die Hosen voll, wenn du nur Achterbahn hörst, oder? Schade, ich wäre gern eine Runde mit dir gefahren", schlug nun er zurück. Ich stieß ihn in die Rippen.

"Pft! Los, dann komm`!", sagte ich zu ihm, und wir gingen zu der Achterbahn. 

Auch Benny und Marita wollten sich den Spass nicht nehmen lassen und ich löste die Tickets für die Bahn.

War ich nicht totaaaal heldenhaft, wie ich in dem kleinen Wagen saß, der mich hoch und runter fuhr?!

Nach unserer Fahrt hatten so ziemlich alle Hunger, also gingen wir zu einem der vielen Fressstände hier auf dem Jahrmarkt und bestellten uns was. So ein Hamburger, wie ihn hier Susan aß, ging ja immer.

Johanna entdeckte danach eine lebende Statue und legte dem Mann eine Münze in das Glas, welches vor ihm stand. Ich ging zu ihr hin.

"Na, was meinst du, könnte ich das nicht auch machen?", fragte ich sie, und machte eine seltsame Pose. Johanna musste lachen.

"Aber sicher doch! Ich würde dir auch etwas Geld geben, wenn du hier stehen würdest", zwinkerte sie.

"Ach, das ist gut zu wissen. Immerhin bin ich ja jetzt ein armer Student, und muss jede Geldquelle nutzen, die sich mir öffnet", flachste ich weiter.

"Sag` mir dann einfach Bescheid, wenn es soweit ist", meinte sie, "dann komme ich auf jeden Fall".

"Prima. Immerhin bist du nicht ganz unschuldig daran, dass ich studiere", grinste ich sie an, und sie strahlte zurück.

"Ich bin gespannt, wie lange du mir das vorhalten wirst", meinte sie dann.

"Oh, sehr lange, darauf kannst du dich schon gefasst machen", sagte ich zu ihr.

Wir schlenderten weiter und beobachteten einen Clown, der mit Tellern jonglierte. Aus dem Augenwinkel sah ich plötzlich Gerda auf uns zukommen. Auch sie erblickte uns und kam zu mir. Wir begrüßten uns und ich fragte sie:

"Hey, sind deine Kinder auch hier?". Sie räusperte sich.

"Nein. Ich werde auch nicht ewig hierbleiben, wollte nur ein paar schöne Fotos schießen". Ich sah Gerda erstaunt an.

"Du bist echt mit einer Kamera hier?", fragte ich sie erfreut. Ich wusste noch zu gut, was für einen glücklichen Gesichtsausdruck bekommen hatte, als sie mir erzählt hatte, dass sie Fotografin war. 

"Naja, es ist eine alte Kamera, für die man noch Filme braucht, was Neues geht im Moment einfach nicht. Aber seit wir miteinander gesprochen haben, mache ich wieder viel mehr Fotos. Der Jahrmarkt hier ist natürlich eine geniale Kulisse, die wollte ich mir nicht entgehen lassen. Albert ist zu Hause bei Elvira, die anderen drei sind bei Freunden. So habe ich jetzt ein wenig Zeit, ein paar Fotos zu knipsen", erklärte sie mir.

"Das ist toll!", sagte ich ehrlich zu ihr. Es war gut, dass sie mal wieder etwas für sich tat, dieser Stress mit ihrem Blödmann zu Hause ging ihr sicher oft genug an die Nieren.

"Ach, wenn dich das so freut, Lucas, dann stelle dich doch mal vor den Clown hier!", wies mich Gerda an und zückte ihre Kamera. Mark, der das natürlich mitbekam, grinste:

"Fragt sich nur, wer hier der größere Clown ist"

"Stell` dich dazu, dann weißt du es", konterte ich.

"Lucas, jetzt mal bitte lächeln!", gab mir Gerda eine Anweisung, und ich strahlte sie an, auch wenn der größte Teil ihres Gesichtes nun hinter der Kamera verborgen war.

"Gut so, bleib` so!", meinte sie, dann klickte sie und das Bild war im Kasten. "Prima, das hätten wir", sagte sie dann zufrieden.

Schon kurz darauf wurde unsere Aufmerksamkeit auf Susan gelenkt, die sich auf das Kinderkarussell gesetzt hatte. Und so wie sie aussah, schien es ihr ja richtig Spass zu machen.

Gerda nutzte die Gelegenheit sofort und sprang zu Susan, um auch sie mit der Kamera festzuhalten.

Auch Marita musste sich für Gerda in Pose schmeißen, und diese setzte sich kurzerhand auf den Boden und lachte in die Kamera.

Johanna hatte dann die Idee, zum Spiegellabyrinth zu gehen, also wagte auch ich mich in das gläserene Gerüst hinein. Mir war noch nie sonderlich wohl in den Dingern gewesen, schaffte ich es doch jedesmal, mir irgendwo die Birne anzuhauen.

Vorsichtig tastete ich mich durch die Gänge. Marita fand das sehr lustig und lachte die ganze Zeit, und Gerda hatte ebenfalls einen Heidenspass und knipste uns, wann es ging.

Wir irrten eine ganze Zeit durch das Labyrinth, doch irgendwann fand dann Benny den Ausgang, und wir kamen wieder ins Freie. Ich diesmal sogar ganz ohne mir eine Beule eingefangen zu haben.

Wir schlenderten weiter über den Markt, als Susan auf ein großes Zelt aufmerksam wurde.

"He, schaut mal dort drüben!", sagte sie und ging schnurstracks dorthin. Wir anderen trotteten hinterher. "Eine Wahrsagerin!", meinte Susan entzückt, die natürlich sofort das Schild am Eingang entdeckt hatte.

Auch Marita war sofort Feuer und Flamme.

"Komm` Schatz, lass` uns da reingehen!", forderte sie Susan auf. "Lassen wir uns sagen, was uns die Zukunft bringen wird!"

"Ihr glaubt doch nicht an den Quatsch, oder?", fragte ich meine Mitbewohnerinnen ungläubig. Das konnte doch nicht wahr sein! Susan - die gestandene Journalistin, die knallharte Reportagen schrieb. Und Marita, die Blumenfee. Wir hatten doch alle nichts mit dem Esoterikmist am Hut.

"Ach, das ist doch nur ein Spass!", sagte Susan. "Wie sind doch heute hier, um Spass zu haben. Komm`, Marita, gehen wir! Ich bin gespannt, was uns die Wahrsagerin sagen wird!". Nun blickte auch ich auf das Schild am Eingang.

Madame Selena nannte sich die Dame. Und in die Zukunft konnte sie sehen! Na, dann konnte doch überhaupt nichts mehr schiefgehen! Ach, und wie nett, Traumdeutungen machte sie also auch noch! Das hieß also, wenn ich das nächste Mal von meinem Vater träumte, ihn sah, wie er mit mir redete oder wir gemeinsam angelten, dann musste ich nur hierher kommen, um zu erfahren, was das bedeutete! Ich käme ja von selbst nie auf die Idee, dass ich ihn vermissen könnte!

 

Ich schüttelte leicht den Kopf. Jede Wette, dass Madame Selena meinen Mitbewohnerinnen prophezeite, dass sie bald ein Kind bekommen würden. Diese Wahrsager hatten ja das Talent, die geheimsten Wünsche ihrer Kunden zu erfahren und dann als Weissagung zu verkaufen. Und mich erinnerte der Gedanke daran, dass ich den beiden dringend meine Entscheidung mitteilen sollte. Was bedeutete, dass ich mich mal endlich entscheiden sollte, ob ich mich für ihren Kinderwunsch zur Verfügung stellte oder nicht. 

Und wirklich: Als die beiden rauskamen, strahlten sie über alle Maßen. Sie hielten sich an den Händen, und ich hörte, wie Susan Marita ins Ohr flüsterte:

"Bald schon, hast du das gehört? Wir müssen nur noch ein wenig Geduld haben!". Marita lächelte Susan an.

 

Ich schnaubte innerlich. Ich fand es unmöglich, dass hier die Sehnsucht dieser Frauen so ausgenutzt wurde. Es war für diese sogenannte Wahrsagerin sicher nicht schwer gewesen rauszubekommen, dass die beiden eine Familie gründen wollten.

"Geh` doch auch mal hinein!", sagte plötzlich Benny zu mir.

"Was?", fragte ich ihn. Ich hatte mich wohl verhört.

"Ja, lasse dir doch mal deine Zukunft vorraussagen!", stimmten nun auch Marita und Susan ein.

"Ich glaube aber nicht an so einen Quatsch!", protestierte ich. "Dann gebe ich dafür auch sicher kein Geld aus!"

"Ach, es war gar nicht so teuer!", meinte Susan, "Komm, das ist echt witzig und teilweise richtig verblüffend! Sie hat Dinge gewusst, die sie nicht hätte wissen können!"

"Aber...", wollte ich mich weiter wehren, und fing den Blick von Johanna ein. Sie sah mich mit einem undefinierbaren Ausdruck an, sagte jedoch kein Wort.

"Los, Lucas! Ich bin gespannt, was dir Madame so sagen wird!", meinte nun auch Mark.

"Ist doch nur ein Spass!", fügte Susan wieder hinzu, und ich gab mich geschlagen.

"Na gut, wenn ihr denn meint!", sagte ich, bevor ich das Zelt der Wahrsagerin betrat.

 

Und weinte schon jetzt jedem Cent hinterher, den ich hier liegen lassen musste.

Schei...benkleister! Wo war ich denn hier nur gelandet?! Bei Alice im Wunderland, oder was?

 

Es wurde wirklich jedes Klischee hier bedient, und schon allein das machte mich stutzig. Jemand, der wirklich eine besondere Gabe hatte, musste die doch nicht so zu Schau stellen!

Als der Vorhang, der am Eingang hing, zugefallen war, umfing mich Düsterness, an die sich meine Augen erst gewöhnen mussten.

"Komm` doch näher!", sprach mich da eine Frau an, von der ich vermutete, dass es sich um die Madame handelte. Ihre Stimme war jünger, als ich erwartet hatte, und als sich meine Augen an das gedämmte Licht hier drin gewöhnt hatten, sah ich, dass die Wahrsagerin tatsächlich keine alte und bucklige Frau war, wie sich das meine Fantasie bereits ausgemalt hatte. Allerdings war ihr Alter dank der Schminke schwer zu schätzen.

 

Ansonsten aber bediente sie sich auch äußerlich jeglicher Klischees, die über Wahrsager herumschwirrten. Na, das konnte ja heiter werden!

"Du möchtest also etwas über deine Zukunft erfahren?", fragte sie mich. Möööp, der erste Fehler! Ich hatte es gewusst.

"So ungefähr", sagte ich lapidar. Sie lächelte mich an.

"Dann setze dich an den Tisch!", forderte sie mich auf. "Madame Selena weiß einfach alles über deine Zukunft!". Genau. Ich war also in den besten Händen hier. "Tee?"

"Was?"

"Möchtest du einen Tee? Der beruhigt und öffnet deine Sinne für das Unmögliche", sagte sie ernst.

"Nein danke", antwortete ich. Ich war doch nicht zum Teetrinken hier herein gekommen!

Stattdessen nahm ich auf dem Stuhl vor mir Platz, der vor einem Tisch stand, der voller Esoterikkram war. Madame Selena setzte sich auf einen imposanten Polsterstuhl mir gegenüber. Ich ließ meinen Blick über die Dinge schweifen, die auf dem Tisch lagen. Tarotkarten, ein Quija-Brett...

... und sogar die berühmte Kristallkugel war da! Also, wenn ich mich nicht insgeheim über die Geldverschwendung hier ärgern würde, müsste ich sogar lachen. Gab es wirklich Leute, die an diesen Unsinn glaubten?

Dann sah mich die Wahrsagerin an. Sekundenlang, so dass es mir schon unangenehm wurde.

"Entspanne dich", sagte sie ruhig. "Außerdem wäre es schön, wenn du mir deinen Namen verraten könntest. Namen kann ich nicht sehen". Aber sicher, DAS war doch kein Problem! Eine Hellseherin, die nicht mal den Namen herausfand.

 

Lächerlich.

"Ich heiße Lucas", sagte ich zu ihr.

"Lucas mit C", sagte sie dann. Aha, das hatte sie also gut erraten. Ich nickte. Wieder sah sie mich an.

"Ich kann dir aus den Karten lesen, eine Handdeutung machen, die Kristallkugel nehmen oder aus dem Teesatz lesen. Eine Kombination aus zwei dieser Dinge geht auch. Was sollen wir also tun?", wollte sie wissen. Ja, woher sollte ich denn wissen, wie sie mir meine Zukunft am Besten darlegen sollte? Ich nannte die ersten beiden Dinge, die mir in den Kopf kamen.

"Karten und Hand", sagte ich.

"Eine gute Wahl! Die Hand würde ich sowieso immer empfehlen, weil man daraus am meisten lesen kann. Sie ist die Visitenkarte der Zukunft eines jeden Menschen.

"Gut", sagte ich und sie griff sich meine Hand. Ein paar Mal strich sie einfach darüber, dann wurde sie ruhiger und besah sich meine Linien darauf. Dann ging sie näher ran, wieder zurück, und sah mich an. Wieso sah sie so erschrocken aus? Herrje, diese Umgebung mache einen schon ganz kirre!

"Du bist Single", sagte sie dann. Aha, man begann also mit dem Thema, das sicher 80 % der Leute am meisten interessierte: der Liebe. Leider war sie da bei mir an der falschen Adresse. Aber ich tat ihr den Gefallen und machte mit.

"Ja, das bin ich", meinte ich gelangweilt. Also hatte sich bisher weder Marlene, noch Geraldine oder Kirsten in meine Handflächen gebrannt, dachte ich leicht belustigt. Sowas aber auch.

"Schon lange", fuhr sie mit weihrauchgeschwängerter Stimme fort. "Warum bist du schon so lange allein? Ein Mann wie du?"

"Äh...", sagte ich und überlegte, ob das diese Frau etwas anging. Außerdem sollte sie das doch wohl rauslesen können, dieses Genie. Doch sie wartete gar nicht auf meine Antwort, sondern betrachtete meine Hand nun intensiver. Ich hatte schon Angst, dass sie mit ihrer Nase meine Haut berührte, so nah hing sie darüber.

"Die Frau, die du heiraten wirst, kennst du aber schon", fuhr sie fort und mir fuhr der Schreck in die Glieder. Dabei hatte sie einen der größten Standardsprüche gesagt, die diese Wahrsager auf Lager hatten: >Wenn sie morgen vor die Haustür gehen, werden sie ihrem Traumpartner begegnen!<. So ein Quatsch. Ich beruhigte mich wieder.

"Das kann nicht sein, weil ich nicht heiraten werde", sagte ich bestimmt.

"Doch, das wirst du. Und die Frau, die du heiratest, kennst du schon lange". Alles klar. Diese Schiene fuhr man also. Aus Freundschaft wird Liebe. Ich musste mir das Gähnen unterdrücken.

"Aber du musst dich befreien, Lucas", fuhr sie fort. "Da war soviel Schmerz in deiner Vergangenheit. Die Lebenslinie wird hier so unglaublich dunkel. Du musst ein Teenager gewesen sein, habe ich recht?". Nun fuhr mir nicht nur der Schreck in die Glieder, sondern eine eiskalte Gänsehaut meinen Rücken entlang. Hatte Mark von draußen irgendetwas geflüstert?

"Wer von meinen Freunden hat ihnen das gesagt?", fragte ich eisig.

"Du bist mit Freunden hier?", fragte Madame zurück und sah mich mit ihren Kulleraugen erstaunt an.

"Haben sie das denn nicht gesehen?", provozierte ich sie. Es war so ungeheuerlich, was sie mir hier erzählte, da musste der Ärger ja irgendwie raus.

"Wie sollte ich das denn sehen?", fragte sie. "Du bist wohl jemand, der nicht daran glaubt, dass ich das dritte Auge habe und sehen kann, wie die Zukunft der Menschen, die hier vor mir sitzen, verlaufen wird!"

"Nein, das tue ich wirklich nicht", schleuderte ich ihr entgegen. Doch meine Worte kümmerten sie nicht. Sie nahm sich erneut meine Hand und sah wieder darauf.

"Das solltest du aber. Denn diese Sache aus deiner Vergangenheit, dieser Schmerz, könnte deinem Liebesglück im Wege stehen. Ich sehe dich vor einer Entscheidung, und wenn du den falschen Weg wählst, wirst du lange Zeit, vielleicht für immer, allein bleiben, Lucas!". Ihre Stimme hatte schon fast gezittert, so aufgebracht war sie.

"Vielleicht will ich das so", sagte ich trotzig. "Nicht jeder sehnt sich nach Liebe und Familie"

"Kein Mensch möchte alleine sein", widersprach sie mir. "Du würdest nicht nur dich unglücklich machen, denke daran. Es gibt da diese Frau, die du heiraten wirst, wenn du dich richtig entscheidest. Solltest du die falsche Entscheidung treffen, wird auch sie sehr unglücklich sein".

"Das kann jetzt aber nicht mehr in meiner Hand stehen!", sagte ich genervt.

"Es ist eine Frau, die dich liebt. Und wenn du ihre Liebe nicht erwiderst, wird sie natürlich unglücklich sein! Das kann man auch herausfinden, wenn man das dritte Auge nicht hat!"

"Aber diese Frau gibt es nicht!", sagte ich. So lange war Geraldine ja nun auch nicht in mich verliebt! Kirsten hatte auch keine Andeutung gemacht, dass sie sich mal mit mir treffen mochte. Marlene vielleicht?

"Können sie das sehen, ob ich diese Frau schon einmal enttäuscht habe?", fragte ich leise. Sie schüttelte den Kopf.

"Das müsste ich aus ihrer Hand lesen. Käme da denn eine Frau in Frage?", fragte sie. Ich nickte.

"Von ihr weiß ich, dass sie in mich verliebt ist. Oder war, je nachdem...", stammelte ich verwirrt. Sie besah sich noch einmal meine Handlinien.

"Deine Linien... kann es sein, dass es schon öfter Enttäuschungen gab? Es kommt mir so vor, dass du dich immer wieder gegen Beziehungen gesträubt hast, zumindest kann ich kaum was finden, dass dich in einer glücklichen Beziehung zeigt. Einmal vielleicht, was aber schon recht lange her ist...", sie blickte auf.

"Möglich", sagte ich einsilbig und entzog ihr meine Hand. "Sagen denn die Karten das gleiche?", lenkte ich sie nun ab.

"Natürlich. Warum sollten die Karten was anderes sagen als die Hand?", fragte sie verständnislos.

"Ich will das sehen. Es waren zwei Dinge ausgemacht", beharrte ich.

"Kein Interesse daran, auch was über den Beruf zu erfahren?", wollte sie wissen, und ich ahnte, dass sie mir das aus den Karten hatte zeigen wollen. Aber nicht mit mir! Jetzt konnte sich Madame mal die grauen Zellen anstrengen! Die mischte schon seelenruhig die Karten und legte sie aus. Dann drehte sie scheinbar unwillkürlich sieben der Karten um und besah sie sich.

"Große Güte! Das Ereignis aus deiner Vergangenheit hat deine Familie zerstört, oder?", fragte sie und sah mich mitfühlend an. Verdammte Scheiße hier! Ich musste hier raus!

Ich stand auf, aber sie hielt mich zurück.

"Lucas, warte bitte!", sagte sie. Ach ja, sie wollte ja noch bezahlt werden.

"Was bekommen sie?", fragte ich kühl. Doch sie ging gar nicht darauf ein.

"Du bist auf einem guten Weg. Hier, seh` her: Das ist der Tod. Der steht dafür, dass Altes begraben und Neues angefangen wird. Wo verändert sich gerade etwas in deinem Leben?".

Ich besah mir die Karten auf dem Tisch. Und wirklich, da war sie. Die 13. Karte mit dem Tod darauf.

"Beruflich hat sich was geändert. Und diese Vergangenheitsgeschichte auch", sagte ich leise.

"Bitte, setze dich wieder!", flehte sie schon halb, "Ich kann aus dir lesen wie aus einem offenen Buch! Ich würde gerne noch mit dir arbeiten!"

"Aber meine Freunde stehen draußen und warten auf mich", warf ich ein.

"Dann sollen sie sich solange beschäftigen. Wir sind hier auf einem Jahrmarkt!", sagte Madame Selena forsch. Ich setzte mich also und sie sah sich die Karten wieder an.

"Dieses vergangene Ereignis - wie alt warst du da?", fragte sie mich.

"Dreizehn", antwortete ich und sie nickte.

"Wie ich es mir dachte. Was ist damals passiert?". Oh Gott. Musste das jetzt und hier sein? Ich wollte ihre Hilfe doch gar nicht haben! Ich schaffte es gerade so schön allein, auch ohne den Esoterikmist. Da ich zögerte, sah sie mich wieder so intensiv an. "Möchtest du nicht darüber reden? Vielleicht könnte ich dir Ansätze geben, wie du das aufarbeiten kannst".

"Mein Vater ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Meine Mutter ist seelisch daran zerbrochen", erklärte ich knapp, weil ich nicht mehr bedrängt werden wollte.

"Oh", machte sie mitfühlend. "Ja, du hast deinen Halt verloren in dieser für einen Jungen so wichtigen Zeit. Du hattest ein gutes Verhältnis zu deinen Eltern, oder?"

"Ja" sagte ich und schluckte.

"Ach, das sind diese Tragödien, die ich hier immer wieder zu sehen bekomme, Lucas. Da kamst du herein, jung und gutaussehend, und ich habe mir gedacht: Was will dieser Mann bei mir? Aber ich sollte es besser wissen. So viele Menschen müssen mit schweren Schichsalsschlägen kämpfen. Tod und Krankheit, Arbeitslosigkeit, Mobbing, Liebeskummer - alles mögliche sehe ich hier, wenn mir jemand gegenüber sitzt. So tragisch!". Sie mischte die Karten erneut und legte den Stapel auf den Tisch. "Drehe jetzt bitte du sieben Karten herum, Lucas", wies sie mich an und ich wählte ohne lange zu überlegen sieben Karten aus. Sie nickte bei jeder, die ich offen auf den Tisch legte.

"Und?", fragte ich sie.

"Wie ich schon aus der Hand las. Große Veränderungern stehen an. Du hast von einer beruflichen Änderung gesprochen. Hast du den Arbeitsplatz gewechselt?"

"Ich habe mich an einer Uni eingeschrieben", erklärte ich. Ihr Gesicht erhellte sich.

"Ah! Das ist wunderbar! Du nimmst dein Leben in die Hand! Hier hast du den Magier aufgedeckt. Eine kraftvolle Karte, die besagt, dass du deine Energien wunderbar einsetzen wirst und ein Händchen dafür hast, Ideen und schöpferische Kraft ausgewogen einzusetzen. Ich schätze, du wirst in der nächsten Zeit keine Probleme auf der Uni haben".

 

Ich glaubte wirklich nicht an Wahrsager, Kartenleger und sonstige Verdächtige, aber ihre Worte taten mir trotzdem gut, ich konnte es nicht ändern. Ich entspannte mich wieder. Sie besah sich weiter die Kartenkombination.

"Lucas", sagte sie dann, "Bist du vor kurzem Vater geworden?". Ich hätte fast laut losgelacht, ließ es aber, weil sie mich jetzt ernst und auch verwirrt ansah.

"Nein, nicht das ich wüsste", gab ich zur Antwort.

"Seltsam. Dann hat vielleicht deine Mutter wieder geheiratet?". Sollte ich ihr sagen, dass sie sich gerade in einer ganz kalten Region befand? Wäre das hier Topfschlagen, dann wäre sie sowas von dem Topf entfernt.

"Nein, hat sie nicht", sagte ich nun doch verwundert. Was sollten denn diese komischen Fragen?

"Es ist nur so: Es sieht so aus, als hätte sich deine Familie wieder vergrößert. Kann das sein?". Nun bohrte sich ihr Blick wieder in meinen. Ich fasste es nicht! Wie hatte sie das gesehen? Ich sah mir nun ebenfalls die Karten an, weil ich es einfach nicht begriff, wie man nur anhand dessen auf so eine Aussage kam.

"Ich habe einen Halbbruder", sagte ich. "Ich habe ihn erst vor kurzem kennengelernt". Nun erhellte sich Madame Selenas Blick.

"Das ist es also", freute sie sich. "Und laut der Karten bist du gar nicht mal unglücklich darüber, oder?". Nun musste ich wieder schlucken, weil mir Olis kahler Schädel vor mein Auge kam.

"Er hat Leukämie", stammelte ich, und sofort verdunkelte sich wieder Madame Selenas Blick.

"Wie furchtbar!", entfuhr es ihr.

"Können sie vielleicht sehen... also... ob er stirbt?". Ich hielt meinen Blick nun gebannt auf die Karten gerichtet, weil ich die Wahrsagerin nicht ansehen konnte. Doch sie seufzte auf, und ich hob meinen Blick erschrocken. Bedeutete dieses Seufzen etwa, dass er sterben würde?

"Das ist sehr schwer zu sagen. Er ist noch so frisch in deinem Leben, die Handlinien zeigen da noch kaum etwas. Und die Karten zeugen zwar von Kraft, guten Entscheidungen und Neuanfängen. Aber ich kann daraus nicht erkennen, ob dein Halbbruder seiner Krankheit erlegen wird oder nicht. Ich sehe dich in deiner Zukunft zwar nicht trauern, aber vermutlich ist er einfach noch zu frisch in deinem Leben, als das ich da was sehen kann. Tut mir sehr leid". Ich konnte ihr nur zunicken, als Zeichen dafür, dass ich verstanden hatte. Obwohl ich gar nichts verstand.

"Siehst du die hier?", fuhr dann Madame Selena fort und zeigte auf eine Karte, die ein nacktes Paar zeigte. Na, das passte doch zu mir, keine Frage.

"Das sind die Liebenden", erklärte sie. "Die steht nicht nur dafür, dass man sich verliebt. Das natürlich auch, und deshalb untermauert dies ebenfalls das, was ich dir aus deiner Hand herausgelesen habe. Aber die Karte besagt auch, dass man eine Entscheidung mit dem Herzen trifft. Du wirst dich entscheiden, und du wirst nicht nur vom Kopf, sondern auch mit ganzem Herzen hinter dieser Entscheidung stehen. Ich vermute, dass es bei dir eine Liebesangelegenheit ist. Beruflich bist du ja schon auf dem besten Weg, was uns der Magier auch gezeigt hat".

"Dabei wollte ich mich nie so fest binden...", wagte ich noch einmal, meine bisherige Sicht dieser Dinge darzulegen und sah mir die Liebenden noch einmal genau an.

"Weil du noch nicht soweit warst", sagte Madame Selena sanft. "Aber alles deutet darauf hin, dass sich das ändern wird. Bald schon, die Karten haben es eindeutig gesagt, und ich habe es aus deiner Hand gelesen. Du musst dich nur öffnen, Lucas. Lasse es zu! Dann wirst du glücklich werden!"

 

Sehr nachdenklich bezahlte ich das Geld, das ich ihr schuldete und wollte schon hinaus gehen, als mir noch etwas einfiel. Ich drehte mich noch einmal zu ihr um und fragte sie:

"Warum bedienen sie jedes Klischee, dass es über Wahrsager gibt? Sie haben das doch gar nicht nötig". Sie sah mich einen Moment leicht lächelnd an, dann sagte sie:

"Weil es die Leute erwarten". Ich verstand, was sie meinte. Dann nickte ich ihr noch einmal zu und ging dann hinaus.

Als ich aus dem Zelt trat, holte ich zuerst einmal tief Luft. Und versuchte, das gehörte richtig zu verdauen. Ich war mehr als verwirrt, denn sie hatte viel gesehen, was sie nicht hätte wissen können. Also hatte sie vielleicht doch Fähigkeiten, die ich nicht nachvollziehen konnte.

 

Oder war ich jetzt einfach nur so zerschlagen? Vielleicht sollte ich mir das einfach noch einmal zu Hause in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Irgendwann wurde mir bewusst, dass mich die anderen alle anstarrten. Mark richtete zuerst das Wort an mich:

"Sag` mal, warst du jetzt echt die ganze Zeit dort drinnen?", fragte er erstaunt.

"Ja, wo sollte ich denn sonst gewesen sein?", gab ich zurück.

"Ich meine ja nur! Das war doch jetzt locker eine halbe Stunde!", sagte er mit Blick auf seine Armbanduhr.

"Ja, möglich", gab ich zurück.

"Und? Was hat sie gesagt?", wollte nun Gerda von mir wissen. Was sollte ich jetzt sagen?

"Nur Mist", antwortete ich deshalb kurz angebunden.

 

Nur Mist... wenn es doch nur so wäre...

Es dauerte nicht lange, und die Dunkelheit breitete sich über dem Jahrmarkt aus. So beleuchtet hatte mir das Fest immer gefallen, nur heute hatte ich irgendwie keinen Blick dafür. Ich war viel zu durcheinander, wollte mir dies aber nicht anmerken lassen.

Da wir jetzt schon einige Stunden hier waren, musste natürlich auch mal wieder der Magen gefüllt werden. Obwohl mir immer noch ein wenig schlecht wegen der Madame war, gönnte auch ich mir nun einen Hamburger an einem der Stände. Das Lächeln der Verkäuferin sah ich kaum.

 

Immerhin kannte ich sie ja nicht, und ich würde ja eine Frau ehelichen, die ich schon lange kannte. Ha! Wäre ich doch bloß nie in das Zelt dieser Wahrsagerin getreten, dann hätte ich vielleicht sogar ein wenig geflirtet. Aber so war mir jegliche Lust darauf vergangen.

Nach dem Essen wurden wir vom Autoscooter angezogen. Auf das unser Essen auch schön im Magen durcheinandergewirbelt wurde!

Wir kauften die Chips und suchten uns unbesetzte Autos aus. Als ich saß und sah, dass Mark nicht weit von mir stand, rief ich ihm zu:

"Du erwischt mich sowieso nicht!".

"Das werden wir ja sehen!", lachte der, und nachdem der Hupton erklungen war, und wir die Chips in die Schlitze gesteckt hatten, ging es richtig los.

Auch Timo, Johannas Mitbewohner, kam auf das Fest. Ich beobachtete Marks Reaktion, als Timo zu uns zum Autoscooter kam. Und stellte fest, dass er Timo ganz normal grüßte, die beiden kannten sich also.

 

Ob Mark schon oft bei Johanna gewesen war? Plötzlich interessierte mich sehr, wieviel Kontakt Mark mit Johanna wirklich hatte. Dabei ging es mich doch eigentlich überhaupt nichts an! Und war ich nicht sogar dabei, die beiden zu verkuppeln?

 

Meine Güte, diese Wahrsagerin hatte mich echt durcheinander gebracht!

Es war schon spät geworden, und Gerda verabschiedete sich nun von uns, um wieder zurück zu ihrer Familie zu gehen. Sie war um einiges länger geblieben, als sie ursprünglich vorgehabt hatte, was mir aber zeigte, dass sie dringend diese Zeit für sich brauchte. Ich hoffte sehr, dass sie sich die nun immer mal wieder nahm.

 

Wir anderen blieben noch auf dem Jahrmarkt, obwohl die ersten Ermüdungserscheinungen schon kamen.

 

Aber dank dieser Zelte hier fanden wir die Möglichkeit, uns ein bisschen hinzulegen. Denn das hier war eine Attraktion, die sich "Schlafen wie ein Beduine!" nannte, und wo man tatsächlich gegen eine geringe Gebühr nächtigen konnte. Wir nutzten diese Möglichkeit gerne und machten es uns in den Zelten gemütlich. Ich war mit Mark in einem Zelt, Marita, Susan und Johanna teilten sich eines und zu Benny und Amber hatte sich vorsorglich niemand gelegt.

Nachdem wir wieder wach waren, aßen wir noch eine Kleinigkeit zum Frühstück an einem der Essensstände und machten uns dann erst nach dem Sonnenaufgang auf den Weg zurück nach Hause.

 

Und obwohl der Tag mit meinen Freunden sehr schön gewesen war, war ich doch sehr durcheinander. Und Schuld daran war einzig und allein die Wahrsagerin.

Etwa zwei Wochen nach unserem Jahrmarktbesuch rief Gerda an, die uns besuchen wollte. Ich fragte mich, ob irgendetwas mit Albert oder auch Chris war, inzwischen war ich auf der Hut, wenn es um die Kappes ging.

Wir setzten uns ins Wohnzimmer, und auch Marita gesellte sich dazu. Susan schrieb gerade noch an einem Artikel und wollte etwas später zu uns stoßen.

"Ich habe mich noch gar nicht so richtig bei euch bedankt, dass ihr vor ein paar Wochen Chris bei euch aufgenommen habt", begann Gerda.

"Doch, das hast du!", widersprach ich.

"Eben", schlug auch Marita in die gleiche Kerbe, "das ist doch schon längst Schnee von gestern"

"Ich glaube, ihr wisst gar nicht, was für einen großen Gefallen ihr uns damit getan habt", meinte Gerda. "Deshalb habe ich für euch auch ein kleines Geschenk gemacht. Nichts Weltbewegendes, aber etwas, dass ihr vielleicht nützlich findet"

"Du musst uns doch nichts schenken!", sagte ich erschrocken. Gerda und ihre Familie hatten richtige Geldsorgen, da wollte ich doch auf keinen Fall etwas von ihr annehmen!

"Es ist nur eine Kleinigkeit, und ich möchte das so", sagte sie und stand auf. "Ich muss es von draußen holen, wartet bitte einen Moment"

Als sie wieder herein kam, hatte sie vier größere, flache Gegenstände in der Hand. Alle mit Paketpapier umwickelt.

"Ich habe ein bisschen... experimentiert. Mal wieder meine Dunkelkammersachen vom Dachboden geholt und die Fotos selbst entwickelt, die ich auf dem Jahrmarkt gemacht habe. Und da sind ein paar so schöne dabei gewesen, dass ich dachte, ich schenke ein paar davon euch. Vielleicht könnt ihr so etwas ja brauchen".

 

Und damit wickelte sie die Päckchen aus und vier tolle Fotos von uns kamen zum Vorschein!

 

"Gott, Gerda! Die sind ja super geworden!", freute ich mich und umarmte sie dankbar. "Vielen Dank!". Auch Marita und Susan freuten sich sehr über unser Geschenk.

Sind die Fotos nicht einfach gut rausgekommen? Die drei von uns hängten wir im Esszimmer auf, ich in der Mitte, umrahmt von den Mädels.

Und das Bild, auf dem wir alle drei drauf waren, fand seinen Platz im Wohnzimmer. Das Bild war im Zelt von Madame Selena entstanden. Es war eine Blitzaktion gewesen, als die Madame das Zelt kurz verlassen hatte und in Richtung der sanitären Anlagen entschwunden war. Gerda selbst hatte die Idee - jetzt wusste ich natürlich auch, warum - und scheuchte uns in das Zelt hinein. Die Kristallkugel im Vordergrund des Bildes war natürlich der Knaller. Als dann Madame Selena zurückkehrte, waren wir schon längst wieder draußen gewesen.

 

 

Weiter mit Teil 4 >>

 

 Das Sims2-Singleprojekt

 

Aktuelles

 

 

19.03.19 Endlich! Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich die Seite nun fit für die DSGVO gemacht, alles ist online und ihr könnt hier wieder die Abenteuer meiner Schillers lesen!

 

Ich wünsche euch viel Spaß dabei!

 

 

In meiner Geschichte gibt es immer wieder Bilder, die verlinkt sind und zu Videos auf verschiedenen Video-Plattformen führen. Diese Info steht auch bei jedem der verlinkten Bilder dabei.

 

Bitte bedenkt, dass ihr auf eine andere Homepage kommt, wenn ihr da drauf klickt. Mehr dazu in meiner Datenschutzerklärung.