Der 15. August war schneller da, als gedacht. Nur zwei Tage später war ich zu dem Eignungstest eingeladen, aber zuerst einmal würde ich heute meinen 24. Geburtstag feiern. Und zwar mit allen Leuten, die mir lieb und wichtig waren. Nicht so groß wie sonst, denn ich musste ja sparen, aber es würde sicher trotzdem eine unvergessliche Party werden.

 

Marita und Susan halfen mir bei den Vorbereitungen, und am frühen Nachmittag waren wir mit allem fertig. Während wir auf die Gäste warteten, werkelten wir noch in der Küche, um die letzten Vorbereitungen für das Essen zu treffen.

Benny war einer der ersten, der auftauchte.

Ich begrüßte ihn freudig.

"Alles Gute zum Geburtstag, Lucas!", gratulierte er mir.

"Danke!", gab ich zurück. "Schön, dass du schon da bist! Draußen auf der Terrasse stehen die Getränke, Bier ist im Kühlschrank. Bedien` dich ruhig!". Ja, ich kam doch wirklich wunderbar meinen Gastgeberqualitäten nach. Benny grinste.

"Jetzt lass` mich doch erstmal richtig ankommen"

"Klar doch!", gab ich grinsend zurück, und schon kam der nächste Gast. Amber gesellte sich zu uns.

"Happy Birthday", sagte sie und nahm mich kurz in den Arm.

"Wie denn? Ganz ohne Sticheleien?", fragte ich grinsend.

"Der Tag ist noch nicht vorbei", meinte sie und grinste ebenfalls.

Weil Benny Amber so interessiert musterte, stellte ich die beiden einander vor, denn sie kannten sich ja noch nicht.

"Benny, das ist Marks kleine Schwester Amber. Sie ist gerade 18 geworden und deshalb noch etwas grün hinter den Ohren". Ich hatte es mir einfach nicht verkneifen können, außerdem war ich wirklich guter Laune heute.

"Lucas!", schoss sie sofort heraus, doch ich ignorierte das und fuhr fort:

"Und das hier ist Benny, er ist ein ehemaliger Kollege von mir", stellte ich ihr nun auch ihr Gegenüber vor. Die zwei gaben sich die Hand und murmelten so was wie "Freut mich".

"Ich hoffe, du glaubst ihm kein Wort", lächelte Amber Benny an, der daraufhin ebenfalls ein Strahlen ins Gesicht bekam und sagte:

"Keine Sorge. Dazu kenne ich ihn einfach schon zu gut"

"Hey!", erboste ich mich, "Könntet ihr euch wenigstens heute zusammenreißen? Ich habe Geburtstag, schon vergessen?". Doch ich bekam keine Antwort, und erstaunt stellte ich fest, dass sich Amber und Benny eine ganze zeitlang einfach nur anstarrten.

 

Was ging denn da ab? Besser gesagt: Es war ganz offensichtlich, was hier gerade passierte. Ich schmunzelte in mich hinein. Benny und Amber. Es war vielleicht besser, wenn ich die beiden mal alleine ließ. Eigentlich wollte ich Benny ja fragen, wie es Marlene ging, aber das ließ ich jetzt vielleicht vorerst besser mal. Ich war gerade dabei, mich umzudrehen und wieder hinaus auf die Terrasse zu gehen, als ich sah, dass ein weiterer Gast die Treppe zu unserer Haustür hochkam.

Es war Johanna, die sofort auf mich zuging und mich in den Arm nahm.

"Ich wünsche dir alles Liebe zu deinem Geburtstag", sagte sie leise an meinem Ohr.

"Danke, Johanna", sagte ich ein wenig benommen, denn ich war für einen Moment völlig von ihrem Duft umgeben. Sie roch gut, nicht aufdringlich, sondern zart und süß. So, wie sie eben war.

Als mir klar geworden war, was ich da eben gedacht hatte, ließ ich sie schnell los. Ich musste an Mark denken. Wo blieb der Kerl überhaupt? Ich hätte Johanna jetzt zu ihm schicken können, wenn er schon da gewesen wäre. Stattdessen bot ich ihr ebenfalls ganz einfallslos die Getränke an.

"Danke, ich hole mir dann was", sagte sie, bevor sie auf die Terrasse ging.

 

Und ich versuchte, den Gedanken aus meinem Hirn zu löschen, dass sie heute einfach wunderschön aussah.

Kurz darauf kam dann aber auch endlich Mark, und nachdem er mir gratuliert hatte, schickte ich ihn sofort zu Johanna.

"Darf ich vielleicht erst noch was trinken?", fragte er erstaunt.

"Klar. Aber kümmere dich mal um sie!", sagte ich leicht gereizt. Das wunderte nicht nur mich.

"Sag` mal, was ist denn los?", wollte Mark wissen. Ich atmete kurz ein paar Mal tief ein und aus. Bis eben war ich noch bestens gelaunt gewesen, und jetzt, nachdem Mark da war, nicht mehr. Das war doch verrückt! Deshalb sagte ich dann versöhnlich:

"Nichts, vergiss` es. Ich meinte nur, weil sie hier viele der Leute noch nicht so gut kennt. Ich möchte nicht, dass sie sich blöd vorkommt oder sogar überflüssig". Nun musterte mich Mark intensiv. So intensiv, dass ich schon fast wegschauen musste.

"Du sorgst dich um Johanna?", fragte er.

"Ähm, ich sorge mich um meinen Gast? Was wäre ich für ein Gastgeber, wenn ich das nicht täte?", fragte ich zurück.

"Schon gut", seufzte er auf.

Ich holte dann zusammen mit Susan und Marita die letzten Schüsseln und Platten aus der Küche und stellte sie auf den Tisch, den wir als Buffet auserkoren hatten. Da dann auch alles komplett war, gab ich das Buffet frei.

Und während Benny und Amber vor lauter flirten das Essen wohl völlig vergassen, bedienten sich die anderen bereits erfreut an den Leckereien. Selbst Gerda hatte sich die Zeit genommen, kurz bei mir vorbeizuschauen, was mich wirklich sehr freute.

Nachdem die ersten dann schon mit dem Essen fertig waren, wurde dann auch schon getanzt. Kirsten hatte es sich nicht nehmen lassen, die erste zu sein. Sie hatte schon immer gern getanzt, auch früher schon, als wir zusammen gewesen waren.

 

Meine Sorge, Johanna könnte sich hier langweilen, bestätigte sich zum Glück nicht. Sie kam gut mit den anderen Gästen ins Gespräch und lachte viel. Und das, obwohl Mark sich nicht in dem Maße um sie kümmerte, wie man das von einem verliebten Mann erwarten durfte.

 

Irgendetwas stimmte da nicht, das wurde mir allmählich auch klar. Ich meine, er würde sich eindeutig anders verhalten, wenn er in Johanna verliebt wäre, das wusste ich nur zu gut.

Mark musste mir mal so einiges erklären, so viel stand fest. Doch jetzt würde ich zuerst mal meinen Geburtstag feiern. Während Mama mich darauf aufmerksam machte, dass ich noch gar nichts gegessen hatte, betrat ein neuer Gast die Terrasse.

"Hallo, Darling!", begrüße mich Geraldine, und meine Mutter überlegte wohl in dem Moment, ob sie mal einen Ohrenarzt konsultieren sollte.

"Hey", sagte ich nur und war wie erstarrt. Denn Geraldine hatte ich nicht eingeladen gehabt. Sie wusste natürlich, wann ich Geburtstag hatte, aber ich hatte nie explizit zu ihr gesagt, dass ich eine Party gab und sie kommen durfte.

Und dann fackelte sie auch nicht lange, sondern knutschte mich ab.

 

Vor meiner Mutter.

 

Vor meinen Gästen.

 

Herrje!

Verlegen grinsend blickte ich danach in die Runde. Hm, niemand, außer meiner Mutter natürlich, schien davon Notiz genommen zu haben. Ich seufzte erleichtert auf.

"Geraldine! Welch` Überraschung!", sagte ich schief grinsend. Was für eine schauspielerische Höchstleistung, dachte ich leicht gequält. Doch Geraldine bemerkte natürlich nichts davon. War sie schon immer so gewesen? So... leicht gestrickt? Meine Güte.

"Dachte ich mir doch, dass dich das freut!", strahlte sie. "Ich musste doch einfach zu deinem Geburtstagsfest kommen. Du hattest sicher sehr großen Stress bei den Vorbereitungen, oder? Hast ganz vergessen mich einzuladen in dem ganzen Tohuwabohu!".

 

Nee, jetzt! Hatte ich vorhin noch gedacht, sie wäre leicht gestrickt? Strohdumm traf es wohl eher.

"Ähm, ja, du hast es erfasst!", sagte ich. "Und nun greife zu, es ist noch jede Menge da. Ich hoffe, du hast großen Hunger mitgebracht!"

"Ja, wobei ich mir den Nachtisch für nachher aufheben möchte, wenn alle anderen weg sind", grinste sie mich anzüglich an.

 

Na, das hatte sie sich ja schon prima ausgedacht.

Bevor allerdings Geraldine das neue Schlafzimmer sah, zeigte ich es der Frau, die es soviel mehr verdient hatte.

"Wow, das ist super geworden!", sagte Johanna und sah sich um.

"Ja, nicht wahr? Ich kenne da eine tolle Architektin, die kann ich dir nur empfehlen", grinste ich, und sie lächelte zurück.

"Ach, gut zu wissen", schlug sie in die gleiche Kerbe. "Sollte ich mal einen Umbau planen, dann lasse ich mir von dir die Nummer geben". Sie zwinkerte mir zu und ich spürte, wie sich mein Grinsen vertiefte.

"Doch, ist wirklich gut geworden", sagte sie dann wieder ernsthafter und legte den Kopf schief. "So habt ihr immer noch genügend Platz und jeder seine Privatsphäre".

"Ja, genau", stimmte ich zu. "Ich danke dir", sagte ich dann. "Es ist eigentlich total unglaublich, dass dieser Umbau hier schuld ist, dass ich übermorgen zu diesem Eignungstest gehe. Ich meine, hätten wir den nicht gehabt, hätte ich nicht mit dir über Architektur gesprochen und bemerkt, dass der Beruf zu mir passen würde"

"Dafür musst du mir nun doch wirklich nicht danken!", sagte sie. "Nicht für die Pläne für den Umbau, denn das war ja eine Übung für mich und kam mir vielleicht mehr zu Gute als dir. Und schon gar nicht dafür, dass du darauf gekommen bist, dass Architektur was für dich ist. Das hättest du früher oder später auch so herausgefunden", wehrte sie ab.

"Wie ich mich kenne, eher später", murmelte ich und bekam einen Gedankensprung. Wie lange hatte ich gebraucht, zu bemerken, was für eine tolle Frau Johanna war?

"Ach, besser spät als nie", sagte sie dann, und ihre Worte waren mehr ein Flüstern.

Dann war ich es, der sie umarmte. Mir war urplötzlich so danach gewesen. Ich murmelte noch mal ein Danke in ihr Ohr, damit sie nicht dachte, dass ich sie nun völlig grundlos umarmte. Dabei war es nun auch schon egal, dass ich mich zum gefühlten hundertsten Mal bei ihr bedankte.

 

Doch eigentlich genoss ich ihre Nähe einfach zu sehr und war froh, diese nette kleine Ausrede zu haben.

 

Von draußen drang Lachen an unsere Ohren, ich hörte auch deutlich Mark daraus heraus und ließ Johanna wieder los. Solange ich nicht geklärt hatte, weshalb sich Mark so aufführte wie er sich eben aufführte, war sie weiterhin für mich tabu. Nur diese kleine Schwäche einer kleinen Umarmung hatte ich mir jetzt eben gegönnt. Man mochte mir verzeihen.

Als es schon dunkel war, wagte auch ich ein Tänzchen. Kirsten hatte mich zu der Fläche gezogen, auf der getanzt wurde und gemeint, dass sie mal gern mit dem Geburtstagskind tanzen würde. Diesen Wunsch konnte ich ihr leicht erfüllen.

Auch Matt war gekommen, der Bruder von Mark und Amber, der immer noch auf der Suche nach einer Freundin war. Ob er allerdings bei Susan so gute Aussichten hatte, bezweifelte ich mal ganz stark.

Und, oh Wunder!, Mark sah man dann tatsächlich auch mal mit Johanna. Ich warf ihnen beim Tanzen immer wieder Blicke zu, und als sie jetzt so voreinander standen und sich angrinsten, war ich dann plötzlich doch wieder überzeugt, dass da etwas zwischen den beiden war.

 

Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn sie das dann einfach mal öffentlich machen würden. Mark sollte endlich mal in die Puschen kommen, Johanna war doch schüchtern, das musste er doch bemerkt haben. Aber diese ständige Frage nach "Sind sie nun verliebt oder nicht?" nervte mich nur noch.

Es war schon 3.00 Uhr durch, als auch die letzten Gäste gingen. Alle, bis auf Geraldine. Sie erwartete jetzt wohl tatsächlich noch den Nachtisch, den sie sich aufgehoben hatte.

 

Und ihre Argumente waren ja auch nicht zu übersehen. Außerdem waren Mark und Johanna gemeinsam gegangen, und während ich mir ausmalte, was die beiden jetzt vielleicht noch gemeinsam taten, kam Geraldine auf mich zu.

"Auf das hier freue ich mich schon den ganzen Abend", gurrte sie und küsste mich so heftig, dass ich ihr nicht mehr antworten konnte. Zum Glück. Was hätte ich auch sagen sollen?

Sie zog mich aus und ich legte sie auf das Bett. Je schneller wir hier fertig waren, desto früher konnte ich einfach schlafen. Und Schlaf bedeutete: Keine wirren Kopfbilder mehr, und kein schlechtes Gewissen einer Frau gegenüber, mit der ich nun schlief und nicht das Geringste dabei empfand.

 

Einfach nur Augen zu und gut.

Die große Ernüchterung folgte dann am nächsten Morgen. Die Sonne war noch nicht mal ganz aufgegangen, als ich schon wach wurde. Und das hieß nichts anderes, als das ich keine 2 Stunden geschlafen hatte.

Geraldine neben mir schlief natürlich noch tief und fest. Was ja auch kein Wunder war.

 

Und ich? Was trieb mich bitte so früh aus dem Bett? Ich schlurfte hinaus in das Chaos, das sich vor der Party mal unsere Küche genannt hatte, und goss mir ein Glas Wasser ein. Während ich trank, war eines ganz klar geworden: Ich musste mit Geraldine Schluss machen. Richtig Schluss, denn für sie waren wir ja so etwas wie ein Paar, während sie für mich nur ein netter Zeitvertreib gewesen war. Doch es war einfach nicht mehr so wie zu Anfang und ich wollte das einfach nicht mehr aufrecht erhalten.

 

Nachdem ich diesen Entschluss gefasst hatte, ging ich noch einmal ins Bett.

Zwei Tage später dann war es tatsächlich soweit: Ich stand vor der Uni in Silverstone um in wenigen Minuten den Eignungstest zu schreiben. Heute würde es sich entscheiden, ob ich ein Architekturstudium beginnen konnte oder nicht.

 

Jetzt beruhige dich mal, sagte ich zu mir selbst. Sonst wird das hier nichts!

Ich betrat den Prüfungsraum, in dem schon ein paar andere Leute anwesend waren. Wie ich wollten auch sie dieses Studium beginnen.

Ein Glück, dass wir nicht zu lange auf die Professorin warten mussten, die uns heute testete. Mit strenger Duttfrisur trat sie engerisch nach vorne.

"Guten morgen", begrüßte sie uns und sah in die Runde. "Ich begrüße sie herzlich zum heutigen Eignungstest für das Architekturstudium. Vor sich sehen sie die Testfragen. Beantworten sie soviele wie möglich in den nächsten anderthalb Stunden. Nach dem Ende der Zeit sammle ich die Tests ein. Vergessen sie bitte nicht, ihren vollständigen Namen und ihre Telefonnummer und die E-Mail-Adresse anzugeben, damit wir uns mit ihnen in Verbindung setzen können.

 

Aber nun wünsche ich ihnen viel Glück! Beginnen sie jetzt", wies sie uns an.

Jetzt war es also soweit. Mit zitternden Fingern blätterte ich die Testbögen durch. Und versuchte dabei, mich wieder zu beruhigen, meine Hände durften jetzt auf keinen Fall zittern. Gleich die erste Frage war nämlich eine Zeichenfrage: >Zeichnen sie die Hand ab, mit der sie nicht zeichnen". Okay, so etwas hatte ich ja erwartet. Ich rief mich innerlich also zur Ruhe, wandte die Yoga-Atemtechnik an, um meinen Puls wieder in normale Regionen zu bringen und begann dann einfach. Ich zeichnete meine linke Hand ab, schattierte, um ein dreidimensionales Bild zu erschaffen, und wurde während des zeichnens wieder ruhiger.

Als ich mit dem Endergnis zufrieden war, ging es weiter mit der nächsten Frage.

So arbeitete ich mich durch alle Fragen durch. Fragen, in denen man zeichnen musste und die Ausarbeitung der Perspektive wichtig war (>Zeichnen sie die ihnen am nächstgelegene Zimmerecke ab<), dann mussten Winkel berechnet werden, Flächen- und Körperrechnungen waren dabei, physikalische Fragen wie etwa die Berechnung der Hebelwirkung. Ich kämpfte mich durch und war dann sogar ein wenig früher fertig, was mir Zeit gab, noch einmal alles durchzulesen. Doch ich war zufrieden und hoffte inbrünstig, dass das die Professoren, die den Test korrigieren würden, auch waren.

Ich war etwas müde, als ich das Unigebäude wieder verließ. Aber noch mehr war ich froh, den Test hinter mir zu haben. Ich stieg schon die Treppen nach unten, als mich von hinten jemand rief.

Ich drehte mich um und sah Johanna neben der Tür stehen! Eilig ging ich zu ihr und fragte:

"Was machst du denn hier?"

"Ich hatte heute im Nebengebäude eine Vorlesung und dachte, dass ich auf dich warte. Ich bin doch neugierig und möchte gerne wissen, wie der Test gelaufen ist"

"Ganz gut, denke ich", antwortete ich und besah mir ihre Brille. "Du trägst ja eine Brille!", stellte ich dann fest.

"Ach, nur ab und an. Etwa zum Lesen und so etwas eben". Sie wurde leicht rot und war schon dabei, sich die Brille abzunehmen, als ich sagte:

"Warum lässt du sie nicht auf? Sieht doch süß aus!". Mannomann! Warum rutschten mir bei ihr immer solche Sachen raus? Was dachte sie wohl von mir? Hoffentlich nicht, dass ich mit solchen Sprüchen nur so um mich warf! Und ich musste doch an Mark denken! Johanna blinzelte mich kurz etwas unsicher an, ließ dann aber die Brille an Ort und Stelle.

"Jetzt erzähle doch mal von dem Test!" lenkte sie das Gespräch wieder auf den Eignungstest. "Was für Fragen waren dran? Fandest du es schwer oder eher leicht?"

"Also, schwer fand ich den Test nicht. Natürlich musste man bei manchen Fragen überlegen, und ich besonders, weil ich ja nun nicht frisch vom Gymi komme. Aber ich habe eigentlich ein ganz gutes Gefühl"

"Das freut mich!", lächelte sie. "Und du erzählst mir hoffentlich gleich, wenn du das Ergebnis hast, ja?"

"Natürlich, mache ich!", versprach ich ihr. "Wie ist es denn eigentlich bei dir? Du lernst bestimmt schon für den Abschluss, oder?"

"Naja... ich habe begonnen, ja. Die Zeit geht ja so schnell vorbei"

"Soll ich dich mal abfragen kommen?"

"Ähm... wenn du willst", stammelte sie.

"Sicher! Wann du Zeit hast!", versicherte ich ihr.

"Also... ich habe heute mittag nichts mehr vor. Wenn du also wegen des Tests nicht zu müde bist oder so...", ließ sie den restlichen Satz offen. Doch ich verstand sie natürlich auch so.

"Klar, sehr gern! Du hast mir ja auch geholfen, mich hier auf diesen Test vorzubereiten! Und hey, bei dir geht es schließlich um den Abschluss!", stimmte ich sofort zu.

"Okay. Aber nur, wenn du wirklich willst, ja? Nicht, dass du denkst, du müsstest das machen", stellte sie noch klar.

"Keine Sorge!", versicherte ich, und dann gingen wir los zu ihr.

Ich wartete also ungeduldig auf das Ergebniss des Tests.

 

Und als wäre das schon nicht aufregend genug, kam Susan kurz darauf mit der Nachricht daher, dass der Artikel über Chris, an dem sie so lange gearbeitet hatte, nicht von der Zeitung angenommen werden würde. Er wäre mit viel zu vielen Klischees bestückt. Susan war deshalb sehr niedergeschlagen, was ich sehr gut verstehen konnte. Immerhin hatte sie das, wie auch Marita und ich, für eine gute Idee gehalten, und dann dieser herbe Rückschlag. Was aber noch schlimmer war: Auch andere Zeitungen sagten ihr knallhart ab. Diese Absagen trafen sie so hart, dass das ihrer Kreativität einen ganz gehörigen Dämpfer verpasste und sie sich kaum auf neue Artikel konzentrieren konnte. Das merkte man diesen Artikeln an, die dann ebenfalls nicht angenommen wurden.

 

Es kam, wie es kommen musste: Urplötzlich stand Susan ohne Einkommen da.  

Marita zauberte wunderbare Blumensträuße und -gestecke bei uns zu Hause, während sie darauf wartete, dass der Schimmel und dessen Ursachen in ihrer neuen Filiale beseitigt wurden.

 

Die Werkbank stand bei uns im Arbeitszimmer, weil Mark uns schon sehr robuste Folien vorbei gebracht hatte, die wir unter der Werkbank ausgebreitet hatten. So war Marita nicht auf gutes Wetter angewiesen, sondern konnte wirklich arbeiten wann sie wollte.

Nach endlos scheinenden Tagen war dann aber endlich ein Brief von der Uni im Briefkasten.

 

Mit schweißnassen Händen ging ich in das Haus und legte den Brief zuerst auf dem Wohnzimmertisch ab. Ich hatte tatsächlich Angst, ihn zu öffnen. Was, wenn eine Absage darin war?

 

Doch natürlich konnte ich diese Frage nur beantworten, wenn ich den Brief auch las, und so riss ich den Umschlag auf und zog das einseitige Schreiben heraus. Ich überflog ihn hektisch, bis ich an diesem einen Satz hängen blieb: "... Freuen wir uns, Ihnen mitteilen zu können, dass sie den Eignungstest bestanden haben und wir sie in unserer Universität herzlich Willkommen heißen!..."

 

War das wirklich wahr? Ich las den Satz noch einmal, und ja, die Worte waren die gleichen geblieben. Ich hatte es geschafft! Ich durfte Architektur studieren!

Nach dem bestandenen Eignungstest und meiner Einschreibung auf die Uni war mein Kopf nun für etwas anderes, sehr wichtiges frei.

 

Besuch bei Familie Talin, Olivers Familie. Mir war wirklich nicht ganz wohl dabei, aber war das ein Wunder? Ich würde gleich der Frau gegenüberstehen, mit der mein Vater meine Mutter betrogen hatte, als ich drei Jahre alt war.

Ich hatte mir schon überlegt, wie ich diese Frau begrüßen sollte, wenn sie mir die Tür aufmachte, doch das erledigte sich schnell, denn Oli machte mir auf. Sichtlich erfreut begrüßte er mich.

"Hey, Lucas!"

"Hallo", sagte ich etwas steif, weil eben aufgeregt.

"Komm` herein in die gute Stube", lachte er, und ich trat in das Haus.

Er führte mich in das Haus, und ich konnte mit einem Blick feststellen, dass die Familie wohlhabend war. Wohlhabender als wir.

 

Das also auch noch, dachte ich grimmig. Vermutlich hatte sich Olis Mutter einen reichen Mann geangelt, damit sie und ihr unehelicher Sohn gut aufgehoben waren. Ich stellte sie mir als berechnende, kühle Person vor, die vor nichts zurückschreckte.

"Hast du gut hergefunden?" fing dann Oli ein Gespräch an.

"Ja, kein Problem", sagte ich leicht krächzend und räusperte mich. Er blieb stehen und sah mich an.

"Alles gut?", wollte er wissen.

"Klar, alles bestens", gab ich zurück. Dann grinste er.

"Lügner!", warf er mir vor. Super, er hatte mich durchschaut.

"Na, wie würdest du dich an meiner Stelle fühlen?", fragte ich ihn.

"Falls es dich beruhigt: Ich bin auch nervös", sagte er dann.

"Was?", gab ich zurück. "Tatsächlich?"

"Natürlich. Was dachtest du denn? Also komm`, ich möchte dir jetzt meine Familie vorstellen. Und du kannst ein paar Fragen loswerden". Mit diesen Worten drehte er sich um und ging mir wieder voraus.

Wir betraten das Wohnzimmer der Talins, in dem Olis Eltern schon gewartet hatten. Während mich sein Stiefvater sofort begrüßte, hielt sich seine Mutter noch etwas zurück.

Doch dann sprach auch sie mich an und ich musterte diese Frau wie eine Außerirdische.

"Herr Schiller, willkommen in unserem Haus", sagte sie kühl. Es war wohl kein Zufall, dass sie nicht "herzlich willkommen" gesagt hatte. Ich wurde also nicht von allen mit offenen Armen empfangen. Dass aber ausgerechnet die Person, auf die ich mehr einen Groll hegen durfte als sie bei mir, hier die beleidigte Leberwurst spielte, war schon unter aller Kanone. Da ich aber hier tatsächlich noch Antworten auf meine Fragen haben wollte, verkniff ich mir jeden spitzen Kommentar und schüttelte ihr die Hand.

Sie wies mir einen Platz auf dem Sofa, und ich setzte mich. Als sich Oli dann neben mich setzte, war ich doch irgendwie erleichtert, denn immerhin kannte ich ihn schon etwas, während die anderen alle Fremde waren und ich mir vorkam wie in der Höhle des Löwen.

Olivers Stiefvater ging dann diskret, angeblich, weil er noch das Essen fertig machen musste. Und dann saßen also wir drei in dem Wohnzimmer. Die Stille, die sich für einen Moment über uns legte, war schon fast unheimlich. Ich überlegte, was ich nun sagen sollte und musterte Dagmar Talin unverfroren. Sollte sie doch denken, was sie wollte, es war mein gutes Recht.

Während ich also feststellte, dass meine Mutter zigmal hübscher war als sie, richtete sie das Wort dann an mich.

"Herr Schiller", begann sie und ich musste mir schon wieder den kleinen Funken Ärger hinunterschlucken, der aufgekeimt war. Herr Schiller! Konnte die nicht einfach Lucas sagen? "Durch meinen Sohn haben sie ja erfahren, dass ihr Vater noch ein Kind bekommen hat. Sie wussten bisher nichts davon?". Ich schüttelte den Kopf.

"Nein, überhaupt nichts. Das war eine große Überraschung, als er vor meiner Tür stand", antwortete ich.

"Vor allem eine Unangenehme, was?", fragte Oli und sah mich an.

"Naja...", stammelte ich und überlegte noch, was ich darauf sagen könnte, als auch Frau Talin schon fortfuhr.

"Es ist natürlich schade, dass sie erst jetzt davon erfuhren. Und natürlich tut es mir leid, dass sie ihren Vater so früh verloren haben. Als sich Oliver auf die Suche nach Markus machte und wir erfuhren, dass er gar nicht mehr lebt, war das zuerst auch ein Schock für uns". Sicher doch. Für Oli ja, das glaubte ich gern. Aber doch nicht für sie. Warum sollte sie geschockt sein, dass der Mann, mit dem sie zufällig vor 20 Jahren ein Kind gezeugt hatte, nicht mehr lebte? Hätte er ihr wirklich was bedeutet, hätte sie sich schon vor Jahren auf die Suche nach uns gemacht.

"Ich hätte ihn sehr gern kennengelernt, auch wenn mein Stiefvater für mich mein Papa ist. Aber man hätte doch wirklich gern mal in die Augen des biologischen Vaters gesehen", sagte dann Oliver.

"Oh, es wäre dir vorgekommen, als würdest du in einen Spiegel schauen", sagte ich. "Er hatte haargenau die gleichen Augen wie du"

"Das habe ich ihm bereits gesagt", warf seine Mutter kühl ein und mein Blick wanderte zu ihr. Woher sollte ich das denn bitte wissen, dass sie das schon zu ihrem Sohn gesagt hatte?

"Dann ist es ja gut", entgegnete ich leicht gereizt.

"Nun, ich weiß, dass sie Fragen haben, und ich möchte hier nicht lange um den heißen Brei herumreden. Oliver sagte mir, dass sie wissen möchten, warum ihr Vater ihre Mutter mit mir betrogen hat". Direkt war sie also auch.

"So in etwa", murmelte ich leicht überfahren.

"Es ist nur natürlich, dass sie sich das fragen. Ich werde ihnen nun also die Geschichte erzählen. Ich werde ihnen sagen, was in dieser Nacht vor mehr als 20 Jahren passierte. Auch dir, mein Schatz, du erfährst es ja auch zum ersten Mal", wandte sie sich an Oli. Dieser nickte nur, und Dagmar Talin begann dann wirklich zu erzählen:

"Ich war eine Studentin, und verdiente mir schon von Anfang an etwas für mein Studium mit Jobs hinzu. So auch in diesem Sommer, in dem es mich an eine kleine Rastanlage in der Nähe von Bluewater Village verschlagen hatte. Ich wohnte damals nicht weit von Bluewater entfernt und hatte das Geld dringend gebraucht. 

Viele der Fernfahrer, die immer wieder ihre Pausen auf der Rastanlage verbrachten oder ihre Wochenenden dort verbringen mussten, kannte man dann irgendwann auch. Man kam ins Gespräch, erzählte sich ein bisschen was und war als Servicekraft oft genug auch der Seelenklempner für die Männer, die sonst niemandem zum Reden hatten, wenn sie ihren Sonntag dort verbringen mussten.

So lernte ich auch Markus Schiller kennen. Wir plauderten immer, wenn er da war und ich Dienst hatte, miteinander. Er war ein symphatischer Trucker, was man nun nicht gerade von allen behaupten konnte, und so wurden die Gespräche nach und nach persönlicher.

 

An diesem Wochenende, es war Samstag Abend, hatte ich die Spätschicht. Was bedeutete, dass ich bis 24.00 Uhr arbeiten musste. Markus war auch wieder da, zu dem Zeitpunkt waren wir schon lange per du.

Schon als ich ihm sein Essen gebracht hatte, hatte ich bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Auf mein Nachfragen hin erzählte er mir dann, dass er Krach mit seiner Frau, ihrer Mutter, Herr Schiller, gehabt hatte. Es ging wohl darum, dass sie ihn gerne in einem Beruf gesehen hätte, an dem er nicht oft wochenlang weg war. Er solle doch an sein Kind denken. Und an sie. Sie wollte ihn nicht immer vermissen müssen. Und er hatte ihr erklärt, dass er seinen Beruf sehr liebe und sie das doch wisse". Ich versteifte mich augenblicklich. Mein Vater hatte also mit dieser Person über uns gesprochen. Ich wusste nicht warum, aber der Gedanke erschien mir so falsch.

Da Frau Talin nichts von meinen Gedanken ahnte, sprach sie weiter:

"Da in dem Moment nicht so viel los war, setzte ich mich sogar für einen Moment zu ihm, um mit ihm zu reden.

Er war im Streit von zu Hause losgefahren. Und das sah man ihm auch an, er war traurig und niedergeschlagen. Er sagte mir, dass er seine Familie sehr liebe, aber er doch Geld verdienen müsse und er nichts anderes gelernt habe.

Leider wurde ich dann schon bald an einen der anderen Tische gerufen und konnte nicht mehr mit ihm reden.

Markus blieb nicht lange sitzen. Er ließ sich seine Thermoskanne mit Kaffee auffüllen und zog sich früh in seinen Laster zurück. Als ich dann Feierabend hatte, machte ich mich auf den Heimweg." Nun stockte Dagmar Talin kurz und sah auf den Boden. Und ich ahnte, dass jetzt dann der entscheidende Moment kam. Ich versuchte, ruhig zu atmen, obwohl ich nun seltsam aufgeregt war. Gleich würde ich wissen, was passiert war!

Und dann sprach Olis Mutter weiter, krächzend und leise:

"Dann passierte etwas, von dem ich lange Zeit Schweißausbrüche bekam, wenn ich nur daran dachte. Zwei Kunden, die davor noch ganz normal ihre Pause in der Raststätte gemacht hatten, die ich sogar noch bedient hatte, verfolgten mich urplötzlich. Ich beschleunigte zwar meine Schritte, als mir das klar wurde, und wollte nur schnell zu meinem Auto kommen, dass nicht mehr weit entfernt geparkt hatte. 

 

Doch die zwei Männer rannten urplötzlich los und hatten mich schnell eingeholt. Sie packten mich, ich ließ einen kurzen Schrei los, und dann ging alles ganz schnell: Sie stahlen mir grob meine kompletten Wertsachen, das Geld und den Schmuck, den ich trug, stießen mich auf den Boden und waren wieder so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht waren.

Ich lag noch auf dem Boden, verängstigt und zitternd, als Markus angerannt kam. Er hatte mich gehört, diesen einen kurzen Schrei, und war sofort aus seinem Laster gesprungen, um mir zu Hilfe zu eilen.

 

Er hat mich in den Arm genommen und gefragt, ob ich in Ordnung wäre. Das konnte ich bejahen. Da ich aber immer noch so durcheinander war, hat er mich kurzerhand in seinen Laster mitgenommen, mir eine Decke und einen Kaffee gegeben. Die Kerle waren natürlich schon längst über alle Berge.

Euer Vater war einfach wunderbar. Er hat mich getröstet und sich auch sonst sehr lieb um mich gekümmert.

Als er mich kurz allein ließ, um vom Münzapparat aus die Polizei zu rufen, hat er alle Türen verriegelt, so dass ich mich sicher fühlen konnte. Wir haben geredet und geredet in dieser Nacht, auf mich wartete in meinem Studentenwohnheim niemand, auf ihn ja an diesem Abend auch nicht. Irgendwann wurde ich dann müde, und er bot mir an, in seinem kleinen Bett zu schlafen". Wieder stockte sie. Sie sah mich kurz an, dann Oli, der immer noch ganz blass neben mir saß. Klar, das war nur zu verständlich. Man erfuhr schließlich nicht alle Tage, dass die eigene Mutter Opfer eines Raubüberfalls gewesen war. Doch Dagmar Talin nahm das Gespräch wieder auf, es war, als täte es auch ihr gut, sich das alles mal von der Seele zu reden. Ich bezweifelte, dass diese Einzelheiten ihr Mann wusste.

 

"Markus wurde dann selbst schon bald müde, denn auch er hatte einen langen Arbeitstag gehabt und es war nur natürlich, dass er seinen Schlaf brauchte. Er wollte zuerst auf seinem Sitz schlafen, doch ich, und das gebe ich zu, sagte ihm, dass er sich zu mir legen konnte. Wer hätte auch erahnen können, was seine Nähe urplötzlich in mir weckte! Vielleicht war es diese Mischung aus allem gewesen, dieses Bewusstsein, dass mein Helfer neben mir lag, das Gefühl, auch ihn wegen seines Ehekrachs trösten zu müssen, seine Anziehungkraft, die er so plötzlich ausstrahlte. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall ist es da passiert.

 

Er hat sich am nächsten Morgen Vorwürfe gemacht und mich gebeten, es niemandem zu erzählen. Ihm liege sehr viel an seiner Frau und er wolle nicht riskieren, dass sie ihn verließ. Ich versprach es ihm. Wie hätte ich auch wissen können, dass in dieser Nacht ein Kind gezeugt worden war?

Als ich diese Gewissheit hatte, zog mir das erst mal den Boden unter den Füßen weg". Sie sah ihren Sohn entschuldigend an. "Aber es war gar nie ein Thema, eine Abtreibung auch nur in Erwägung zu ziehen. Der Zeitpunkt war denkbar schlecht, ich hatte noch drei Semester BWL-Studium vor mir, die Nacht, in der es passierte, gehörte zu meinen schlimmsten überhaupt. Aber ich wollte dich, Oliver. Von Anfang an.

 

Natürlich rang ich lange mit mir, ob ich Markus etwas sagen sollte. Auf der einen Seite fand ich, hatte er das Recht, zu wissen, dass er noch einmal Vater werden würde. Auf der anderen Seite wollte ich nicht noch mehr in die Familie einbrechen, als ich es mit dem Seitensprung eh schon getan hatte. Als er mir dann auch noch erzählte, dass bei sich und seiner Frau wieder alles im Lot wäre, war für mich klar, dass ich es verschweigen würde. Und ich habe geschwiegen, und zwar vor allen. Vor meinen Eltern, vor meinen Kollegen, vor meinen Freunden. Niemand hat gewusst, dass der Vater meines Kindes Markus Schiller heißt.

Noch bevor man einen Bauch bei mir sah, schaffte ich es, noch ein Foto von ihm zu machen. Heimlich und von ihm völlig unbemerkt. Ich hatte meinen Apparat praktisch jedesmal mit zur Arbeit genommen, falls er mal wieder kommen würde. Und so war es auch. Und ich war froh, meinem Kind mal wenigstens ein Bild seines Vaters zeigen zu können. Ich wechselte dann schon bald den Job, wollte eh von dem Ort weg, an dem mich soviel an dieses schreckliche Erlebniss erinnerte. Noch während der Schwangerschaft lernte ich Jens kennen, meinen Mann. Ihm machte es nichts aus, dass ich das Kind eines anderen austrug. Ich sagte ihm, dass es ein One Night Stand gewesen war, was ja gar nicht weit von der Wahrheit entfernt lag.

 

Wir heirateten schnell, und als du geboren wurdest, Oliver, wurdest du in eine intakte Familie geboren. Ich verdrängte sogar, dass du einen anderen Vater hast. Erst später, als die Ähnlichkeit mit Markus immer größer wurde, wurde mir wieder bewusst, dass dein Vater nicht Jens war. Da hatte ich den Zeitpunkt allerdings schon lange verpasst, dir die Wahrheit zu sagen.

 

Erst jetzt, als wir ihn so dringend gebraucht hätten, konnte ich dir endlich sagen, dass dein richtiger Vater Markus Schiller heißt".

Ich war dabei, das alles sacken zu lassen. Was für eine Geschichte! Die Gedanken flogen noch kreuz und quer durch meinen Kopf, als Dagmar Talin ein Bild aus ihrer Tasche kramte und es mir zeigte. Ich zuckte zusammen, als ich meinen Vater darauf erkannte.

"Das ist das Bild, das ich von ihm geschossen habe. Es ist unscharf und ein wenig verwackelt, weil ich mich so beeilt habe, damit er es nicht bemerkt. Inzwischen ist es auch schon etwas ausgeblichen. Aber das ist das Bild, das ich Oli vor anderthalb Jahren gezeigt habe. Viel zu spät, ich weiß", sagte sie entschuldigend in Richtung Oli. Der winkte ab, und betrachtete das Bild unseres Vaters noch einmal genau. "Es gehört dir, mein Schatz", sagte dann seine Mutter zu ihm. "Du sollst es haben"

"Dankeschön", murmelte Oliver neben mir und nahm das Bild vorsichtig an sich.

Nachdem sie mit ihrer Erzählung fertig war, legte sich erneut die Stille sehr schwer über uns. Alle hingen ihren Gedanken nach, das spürte man förmlich.

 

Nun wusste ich es also.

 

Nun wusste ich, was passiert war, als Oli gezeugt wurde. Es war ein Ausrutscher gewesen, eine einmalige Sache, die nur zustande gekommen war, weil ihr eine außergewöhnliche Situation voraus gegangen war. Mein Vater war für Dagmar da gewesen, nachdem sie überfallen worden war. Und vermutlich wäre dann trotzdem nichts passiert, wäre mein Vater nicht im Streit von zu Hause losgefahren. Eins war zum anderen gekommen, und ich war mir so gut wie sicher, dass es ein einmaliger Ausrutscher war. Ich glaubte sofort, dass es ihm leid getan hatte.

 

Diese Gedanken waren so versöhnlich für mich, dass sich eine Enge in mir auflöste, von der ich bisher gar nicht gewusst hatte, dass sie da gewesen war. Aber ich konnte wieder befreiter atmen.

Als die Stille schon fast unerträglich wurde, rief uns Olis Stiefvater zum Essen.

"Ich hoffe, es schmeckt ihnen, Lucas", sagte er freundlich zu mir.

"Bestimmt", murmelte ich mit einem trockenen Hals.

Auch Volker, Olivers jüngerer Bruder, gesellte sich zu uns.

"Hey", nuschelte er, als er mich sah, und ich grüßte zurück. Er hatte die gleichen roten Haare wie sein Vater auch.

"Eigentlich sind wir mit unserem Gespräch noch nicht ganz fertig gewesen", sagte Frau Talin plötzlich zwischen zwei Bissen. Ich schaute sie fragend an. Was mochte jetzt noch kommen?

"Herr Schiller, für sie war es wichtig, das alles zu erfahren. Dafür habe ich Verständnis. Jedoch gibt es noch einen überaus wichtigen Punkt, der die Gegenwart betrifft und den wir noch nicht angesprochen haben. Es geht darum, warum sich Oliver überhaupt auf die Suche nach ihrem Vater und dann nach ihnen gemacht hat".

Überrascht sah ich Oli an. Irgendwie war ich immer davon ausgegangen, dass er einfach seine andere Familie hatte kennenlernen wollen und sich deshalb auf die Suche nach uns gemacht hat. Nun hörte sich das aber so an, als wäre da noch etwas anderes, ein anderer Grund.

"Lass` es, Mama", sagte Oliver zu seiner Mutter. "Er ist noch nicht soweit". Die legte geräuschvoll ihre Gabel auf den Tellerrand und blickte ihren ältesten Sohn ungläubig an.

"Darauf können wir keine Rücksicht nehmen! Uns rennt die Zeit davon!"

"Nun mache es nicht schlimmer, als es ist! Heute besprechen wir das auf jeden Fall noch nicht", sagte Oli mit fester Stimme.

 

War zur Hölle ging da vor sich?

"Ich finde auch, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, Dagmar", half dann auch Herr Talin seinem Sohn. Oliver lächelte seinen Stiefvater dankbar an. Doch Frau Talin sah nur ungläubig von einem zum anderen, während Volker in aller seelenruhe weiteraß.

"Seid ihr denn jetzt völlig übergeschnappt?", schrie sie schon fast und ich sah, dass Tränen in ihren Augen schimmerten. "Das ist der Grund, weshalb man die Schillers händerringend gesucht hat! Es geht hier nicht um die Frage, ob jemand für etwas bereit ist und schon gar nicht, ob jetzt der geeignete Zeitpunkt dafür ist. Wir haben einfach keine Zeit mehr! Und ich lasse nicht zu, dass ihr hier sitzt und so tut, als wäre alles in bester Ordnung, dabei geht es Oli schon jetzt von Tag zu Tag schlechter!". Mir blieb fast mein Bissen im Halse stecken und sah sie erschrocken an. Dann wandte ich meinen Blick Oli zu, der jetzt still auf sein Essen blickte.

"So schlimm ist es noch nicht", sagte er dann.

"Doch, das ist es, und das weißt du auch!", sagte sie bestimmt. Und ich wurde immer verwirrter.

"Dürfte ich vielleicht erfahren, um was es geht?", warf ich dann ein.

"Von mir aus liebend gern!", spie mir Olis Mutter entgegen.

"Mama!", sagte Oli schnell, "Wenn das jemand sagt, dann ich, ja? Bitte."

"Dann tu` es doch einfach!"

"Aber...", wollte er schon wieder was sagen, wurde aber von seiner Mutter unterbrochen.

"Du hast die Wahl: Entweder, du machst das selbst, oder ich werde es tun! Ich warte jetzt keinen einzigen Tag mehr! Wir haben schon viel zu lange gewartet!", drohte Frau Talin ihrem Sohn.

Dieser überlegte noch einen kurzen Moment, dann stand er auf und sagte:

"Lucas, komme bitte mal mit in mein Zimmer". Ich war zu verblüfft, um auch nur irgendetwas zu sagen, sondern folgte Oliver widerstandslos. Außerdem war ich froh, aus diesem Zimmer und vor allem von Frau Talin wegzukommen. Er ging mir voraus, eine Treppe nach oben in den 2. Stock, dann zu einer Tür, die zu seinem Zimmer führte und die er schwungvoll aufstieß.

"Willkommen in meinem Reich!", sagte Oli und schaltete sofort seine Anlage ein, aus der mit recht viel Bass R`n`B wummerte. Sein Zimmer war genauso, wie man sich das Zimmer eines 20jährigen so vorstellte. Filmplakate, Sportabzeichen- und wimpel, bunt und auch hie und da etwas verstaubt. Es ähnelte sogar ein wenig meinem Zimmer im Haus meiner Mama.

"Was ist hier eigentlich los?", fragte ich ihn, als ich die Inspektion seines Zimmers abgeschlossen hatte.

"Etwas, was ich dir eigentlich erst in ein paar Tagen sagen wollte. Die Zeit hätten wir eindeutig noch gehabt, aber meine Mum schiebt Panik". Ich schluckte.

"Hat sie denn Grund, Panik zu schieben?", fragte ich ihn und musterte sein Gesicht. Nun war alles Lächeln daraus verschwunden, ich sah einen völlig ernsten Oliver vor mir.

"Bevor ich dir diese Frage beantworte, möchte ich nur, dass du jetzt nicht denkst, dass das der einzige Grund war, weshalb ich euch gesucht habe. Es war der Auslöser, ja. Nur dadurch habe ich erfahren, dass ich einen anderen Vater habe. Ich habe mich gefreut zu hören, dass ich noch einen Bruder habe, und ich habe mich noch mehr gefreut, als ich endlich deine Adresse in der Hand hielt und du vor mir standest. Diese Sache ist nicht der Grund, weshalb ich versuche, dass wir uns kennenlernen und uns vielleicht auch mal ganz gut verstehen, auch wenn ich weiß, dass du mich ablehnst". Ich wollte schon protestieren, dass es nicht so war, dass ich ihn ablehnte, doch er hob nur die Hand und bedeutete mir, dass ich nichts sagen sollte.

"Lasse mich bitte zu Ende reden, Lucas. Sonst verlässt mich doch noch der Mut", sagte er bittend, und ich nickte. Dann seufzte er laut auf.

"Lucas, ich bin krank", sagte er dann, und ich sah ihn an.

"Was?", fragte ich dümmlich, obwohl ich ihn doch so deutlich verstanden hatte.

"Ich bin krank", wiederholte er dann. "Ich habe vor anderthalb Jahren erfahren, dass ich ALL habe", sagte er, "Akute lymphatische Leukämie". Der Schreck, der mir bei seinen Worten durch meine Glieder fuhr, lähmte mich kurzzeitig.

"Wie bitte?", fragte ich ihn krächzend.

Doch Oli sprach weiter, ohne auf meine Worte einzugehen:

"Man hat es zuerst mit Zytostatiken versucht, Chemo also. Doch die schlug bei mir nur zu anfangs an, irgendwann hat man bemerkt, dass sich meine Leukämie damit nicht bekämpfen lässt". Die Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. Leukämie?

"Aber... du siehst aus wie das blühende Leben! Etwas blass vielleicht, aber sonst...", versuchte ich, mir einzureden, dass er auf keinen Fall an dieser tödlichen Krankheit leiden konnte. Doch Oli griff sich plötzlich in die Haare...

... und zog sich diese vom Kopf! Oli hatte die ganze Zeit nur eine Perücke getragen! Nur ein wenig Haarflaum war zu sehen.

"Glaubst du mir jetzt?", fragte Oli leise und ich starrte ihn nur an.  "Meine einzige Überlebenschance besteht darin, eine Stammzellenspende zu bekommen. Natürlich hat man in der DKMS gesucht, der deutschen Knochmarkspenderkartei, doch es war kein geeigneter Spender für mich dabei. Die nächste Option sind Familienangehörige. Die Stammzellen meiner Mutter passen leider nicht, und warum die von meinem Vater und meines Bruders nicht passen können, hat mir Mum dann gesagt. So habe ich es erfahren, verstehst du? Dann ging sie los, die Suche nach euch. Nach der Hoffnung auf geeignete Stammzellenspender. Es war eine schwere Zeit für mich, mir ging es nicht sonderlich gut, man wusste, dass in der Kartei kein geeigneter Spender für mich war und dann musste ich auch noch mit der Tatsache kämpfen, dass Jens nicht mein biologischer Vater ist.

 

Doch durch die Krankheit und die Suche nach euch wurde ich immer wieder von diesem Thema abgelenkt. Außerdem bekam ich trotzdem noch die Chemos, um die Leukämie wenigstens auf dem Level zu halten, auf dem sie war, und sie nicht schlimmer wurde. Und wenn man sich die Seele aus dem Leib kotzt kann man sich nicht mehr sehr viele Gedanken um seine Blutsverwandtschaften machen". Oliver stockte kurz, bevor er weitersprach:

"Die Krankheit, die Chemos samt ihrer Nebenwirkungen und all das haben viel Zeit gekostet. Sonst hätte ich dich wohl schon viel früher aufgespürt". Ich war immer noch wie erschlagen und wusste nicht, was ich sagen sollte.

"Das... tut mir alles sehr leid", presste ich dann heraus. Ich war so geschockt, dass ich nicht einmal mehr klar denken konnte.

"Muss es dir nicht. Es wäre nur gut, wenn du dich testen lassen würdest. Vielleicht passen deine Blutwerte und du könntest mir mit einer Stammzellenspende helfen. Ich wollte dich das bald fragen, allerdings nicht heute, wo du diese ganzen Informationen von meiner Mutter bekommen hast".

"Ist es denn so dringend wie sie sagt?", fragte ich und Oli senkte seinen Blick.

"Es schadet nicht, wenn du dich früh entscheidest, dich testen zu lassen", sagte er ausweichend, doch ich verstand ihn natürlich. Es war also dringend. Soviel stand fest.

 

Ich versprach ihm, dass ich ihm bald Bescheid geben würde. Mehr fiel mir im Moment beim besten Willen nicht ein. Und dann verabschiedete ich mich auch schon bald von der Familie, durcheinander und mit einem verkrampften Magen.

 

Ich konnte gar nicht sofort nach Hause gehen. Zu viel schwirrte mir im Kopf herum, und deshalb irrte ich noch gefühlte Ewigkeiten durch die Stadt. 

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19.03.19 Endlich! Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich die Seite nun fit für die DSGVO gemacht, alles ist online und ihr könnt hier wieder die Abenteuer meiner Schillers lesen!

 

Ich wünsche euch viel Spaß dabei!

 

 

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